Weihnachten reloaded

 

Weihnachten

 

Weihnachten, holy shit, Weihnachten bahnt sich gerade wie eine Pistenraupe seinen Weg durch unsere Wohnung. Und die Pistenraupen sind los. Sie verteilen Tag und Nacht den Kunstschnee und vermengen ihn mit dem reinen, natürlichen Weiss, das wie bestellt vom Himmel fällt. Gott sei Dank. Ausnahmezustand. Nicht nur auf der Piste.

Nach diesem ewig langen Sommer und dem noch längeren Spätsommer, der in einen nicht aufhören wollenden Herbst überging, brechen alle Dämme und Hektoliter von aufgestauten Weihnachtshormonen durchfluten die Körper der Glückseligkeitsjunkies. Bei uns zu Hause riecht es als Folge des gelösten Hormonstaus nun nach „Brunzli“, den beliebten Weihnachtsguezli.

Das Riechzentrum unseres Gehirns ist vermutlich das urtümlichste Instrument, die Welt rezeptiv zu erfassen (was in etwa dasselbe ist, wie visuell etwas zu sehen.) Deswegen heisst es ja auch „Backrezept“. Dummerweise funktioniert auch mein Geruchszentrum in zwei Richtungen und ist mit dem Sprachzentrum vernetzt. Empfängt letzteres den Begriff „Brunzli“, spuckt es leider eine vollkommen andere Geruchserinnerung aus, die wiederum vollkommen andere Bilder im visuellen Zentrum generiert. Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht. Aber ich sehe dann immer dieses antike Urinal unseres Schulhauses vor meinem geistigen Auge, als wir als Neunjährige versucht haben, den Rekord im Hochpissen zu brechen. Der lag wohl irgendwo bei 2.40 Meter, weit über dem schwarz gestrichenen Bereich jedenfalls, bereits auf der weiss getünchten Wand, die so weiss nun auch nicht mehr war.

Über 2.40 Meter hohe Räume kann man sich aus Kostengründen in der heutigen Bildungslandschaft natürlich nicht mehr vorstellen. Heute ist alles auf 2.36 Meter und den Lehrplan 21 genormt. Abgesehen davon gibt es in Bildungsstätten längst keine Urinale mit Ablaufrinne am Boden mehr, allein schon wegen des fehlenden Sichtschutzes – Pädophilenprävention schon im Kindesalter. Seien wir froh, gibt es wenigstens noch Pissoirs. Im Männerklo, das eigentlich ein Knabenklo ist. Wen wundert’s, dass Jungs sich heutzutage nicht mehr herausgefordert fühlen? Und hätten Sie gedacht, dass ausgerechnet Penisneid die Pis(s)astudie dermassen negativ beeinflusst?

Schuld sind nach reiflicher Überlegung jene rohkostevangelikalen Lehrerinnen, die Kindergärtner beim Betreten der heiligen Bildungsstätte durch den Zucker-Scanner treiben, die Znünibox filzen und auch vor Leibesvisitationen nicht zurückschrecken, damit nicht mal ein einziges Glukosemolekül die Grenze der Erziehungsbarriere zwischen Schul- und Elternhaus passiert.

Ich schweife ab. Was mich prompt an jenen Schweifstern erinnert, dem wir die ganze Scheisse mit Weihnachten zu verdanken haben. Womit ich wieder bei der Schule lande. Denn da werden jeden Dezember Schweifsterne auf Teufel komm raus gezeichnet, immer mit der weihnachtlichen Stallszene darunter. Die man eigentlich gar nicht sehen dürfte. Doch niemand stört sich an den fehlenden Fronten der Ställe. Niemand wagt es zu sagen: „Da zieht es doch rein und das arme Jesulein muss wie die armen Hirten auf dem Feld frieren. Winter in Bethlehem. Furchtbar. Zieht endlich die verdammte Stallwand hoch! Wo die doch nicht im Hotel übernachten dürfen, weil voll, weil unbarmherzig, weil Augustus (nach dem ironischerweise ausgerechnet ein Sommermonat benannt ist) ums Verrecken alle Leute gezählt haben will.“

Ich war ja immer schon ein zeichnerischer Tiefflieger. Bei der Talentverteilung der Gestaltungsfähigkeit war ich so was wie Obelix, der sich immer wieder vergebens in die Schlange bei der Ausgabe des Zaubertranks stellt. Nur mit umgekehrten Vorzeichen. Obelix bekommt keinen Zaubertrank, weil er als Kind in den Kessel gefallen ist. Ich bekomme keinen, weil ich ein hoffnungsloser Fall bin. Ich bin die zeichnerische Wildsau, an die man keine Perlen verschwendet. Meine Mutter nennt das „zwei linke Hände“ haben. Ich weiss heute, dass es sich bei meinen Kritzeleien eigentlich um „naive Kunst“ handelt. Leider bin ich noch nicht entdeckt worden.

Tatsächlich, und das wurmt mich noch heute, kriegte ich in der Schule diesen vermaledeiten (im wahrsten Sinne des Wortes!) obligaten, sechseckigen Schweifstern einfach nicht hin. „Du musst nur zwei gespiegelte Dreiecke zeichnen. Kannst ja das Blatt drehen fürs zweite, wenn du’s sonst nicht hinbekommst …“, sagte die Lehrerin. Ha, ha! Ich war wohl der einzige Schüler, der es schaffte zwei gespiegelte Dreiecke absolut kongruent zu zeichnen, obwohl ich das Blatt gedreht hatte.

Wenn wir schon dabei sind (Ich kenne nun gar nichts mehr.): Ich hatte es ja auch nicht mit der Rechtschreibung, die ich dummerweise situationsbezogen anzuwenden versuchte. Im Zusammenhang mit dem Weihnachtsstern schrieb ich damals im Weihnachtsaufsatz „… Und sie sangen gemeinsam das alte Weihnachtslied Oh Komet, ihr Hirten …“, was mir abermals Spott und Hohn meiner Lehrerin eintrug. Schweifstern gleich Komet ungleich sechseckig. Weiss doch jedes Kind. Aber Vorwissen scheuen Pädagoginnen noch mehr als Zucker. Ergo eigenes Unvermögen. Also meines.

Wie beim Schulreifetest – das will ich nun auch noch loswerden, wo ich schon mal dabei bin – als ich fünf Enten in einen kleinen Teich und zwei Enten in einen grossen Teich legen sollte. „Geht nicht“, sagte ich damals, worauf das Herz meiner Mutter nachweislich drei Schläge aussetzte. Nur ein Idiot zwingt die vielen Enten in den kleinen Teich und überlässt den grossen dem Entenpärchen. Da wollte ich nicht mitspielen. Vielleicht ging es beim Reifetest hintergründig vor allem darum, herauszufinden, ob ich in tiefstem Herzen ein Sozi oder gar ein Kommunist sei. Bestimmt wurde ich nur deswegen doch zur Schule zugelassen, damit sie für Mutter keine Ambulanz rufen mussten.

Zurück zu den Weihnachtsliedern, die kometenhaft (guter Schlenker, nicht wahr?) und unaufhaltsam durch den Brunzliduft im trauten Heim ziehen. Das heiligste Weihnachtslied überhaupt, das „Stille Nacht“, enthält einen für Schulbanausen noch viel gefährlicheren Satz als der mit dem Kometen und den Hirten. „Holderknabe mit lockigem Haar“, so lautet die Zeile. „Das“, hatte ich damals meiner Katechetin im Brustton der Überzeugung gesagt, „war schon lieb, dass der Hirtenjunge, dieser Holderknabe, dem kleinen Jesulein eine feine Holderkonfi gebracht hat, damit es auch mal ein feines Zmorgenbrötli bekommen hat, wo sie doch sonst nur Stroh gegessen hat, die Heilige Familie, weil doch der Ochse keine Milch gibt. Die hatten doch nichts ausser Weihrauch, Gold und Myrre, was zwar von den Königen wirklich lieb war, dass sie die Sachen gebracht hatten, aber leider nicht essbar. “ Heute weiss ich, es ist ein blöder, typisch Schweizerischer Fallfehler gewesen. „Hol DEN Knaben mit lockigem Haar!“ hätte ich verstehen sollen. Aber auch dieses Trauma habe ich irgendwann überwunden und kenne nun den richtigen Text, den ich aus Prinzip nicht mitsinge.

Ich weiss nicht mehr, wie der Satz lautete, den mich die Katechetin damals 200 Mal schreiben liess. Ich könnte raten, den Satz in den Kontext der Zeit setzen, versuchen, ihn auf diese Art zu rekonstruieren. Meine Kindheit fand ja irgendwann zwischen dem Erscheinen des Hexenhammers und dem Aussprechen des Zuckerbanns im Kindergarten statt. Welche Worte treffen sich also in der Mitte zwischen „fleischlicher Begierde“ und „intolerierbar erhöhtem Zuckergehalt von Holderkonfi-Brötli“?

Egal. Als Folge der unseligen Sache mit dem Holderknaben verweigere ich seit der vierten Klasse jegliche Holderkonfi (oder Holunderkoniftüre, wie es die oder der Deutsch sagt). Übrigens, von wegen pädagogische Zuckerallergien: Die Diabetes-Präventionistinnen haben es doch tatsächlich fertiggebracht, eines meiner Lieblingsweihnachtslieder, bei dem ich noch nie irgendetwas missverstanden habe, aus dem Kindergarten zu verbannen. „Süsser die Glocken nie klingen“ löst angeblich praktisch sofort Kariesbefall aus, sofern man sich nicht unmittelbar nach dem Singen die Zähne putzt. Und das müssen die Knirpse schon, nachdem sie „Zimetstern, han i gern, Mailänderli au …“ jeden Morgen um 10.40 Uhr aus Leibeskräften geschrien haben. Ergo keine Glocken, die noch süsser klingen. Ist ja auch ein ziemlich anzügliches Lied. Da haben sich die Gender-Konformitäts-Salafistinnen die Hände gerieben, weil sie sich die Arbeit mit diesem Lied nun schenken können.

Doch Weihnachten hat auch seine schönen Seiten. In den Wochen vor dem grossen Fest macht Werbefernsehen mal wieder richtig Freude. Mit Ausnahme der Schokolade- und Parfümwerbungen natürlich, die mir oft den Spass verderben. Wer mag schon diesen in Gold-, Beige- und Brauntönen gekleideten Halbverhungerten zuschauen, wie sie über Klaviertasten hüpfen oder in Kähnen auf Schokoflüssen zur Hölle fahren? Ich jedenfalls nicht. Nein, ich mag Werbung für richtiges Essen. Jenes Essen, dass man im Supermarkt nur in der perfekt ausgeleuchteten Vitrine mit der sauertöpfisch schauenden Verkäuferin dahinter findet, die immer als erstes ein doppelt-schweres Packpapier auf die Waage legt. Und solche Werbung wird zu Weihnachten massenhaft geboten. Ich schaue sie nie, ohne gleichzeitig die Einkaufsliste mitzuschreiben. Der Dezember ist werbetechnisch mein Lieblingsmonat. Im Januar gehe ich dann wieder auf Tauchstation. Ich mag mir die Propaganda der Gesundheitsapparatchiks nicht antun.

Die Weihnachtswerbung rückt die Sache mit den „Brunzlis“, der Musik, den Holderknaben und dem ganzen restlichen Bimbambum für mich doch noch ins rechte (Kerzen-)Licht: Weihnachten ist das Fest der bacchantischen Opulenz, in deren Strudel die Anti-Rubens-Bewegung die weisse Fahne schwenkt.

So will ich hier versöhnlich enden. Schliesslich habe ich eines verstanden: An Weihnachten dreht sich alles um die Ware Liebe.

Verdammt. Immer wieder diese Rechtschreiprobleme!

 

 

Bildcredits: By echiner1 from Valencia, Spain (Candle lights) [CC BY-SA 2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0)], via Wikimedia Commons

 

Tom Zai Verfasst von:

Tom Zai ist Autor, Verleger, Lehrer, Moderator, Musiker und noch vieles mehr.