Wahrheit

In den letzten Tagen springt mir ein Begriff ins Auge: postfaktisch. Wobei es da nicht um die Zustellung von Briefen und Paketen geht. Es geht um die Wahrheit, die offenbar zur Ware geworden ist.

Meist wird der Begriff „postfaktisch“ in Verbindung mit „Zeitalter“ genannt, das Postfaktische Zeitalter im Zusammenhang mit Politik auch „post-truth politics“.

Salopp und kurz bedeutet „Postfaktisches Zeitalter“ zwei Dinge: Die Wahrheit ist scheissegal und überprüfbare Fakten sind im wahrsten (hihi!) Sinne des Wortes unerheblich geworden.

Die Wahrheit ist bedeutungslos

Es gibt viele interessante Artikel zum Thema. Ich möchte an dieser Stelle auf jenen von Alard von Kittlitz in der „Zeit“ verweisen: Die Erde ist eine Scheibe.

Ich bin mit der Wertvorstellung aufgewachsen, dass die Wahrheit und nichts als die Wahrheit über allem steht. Schlimmer als die Missetat ist nur noch die Lüge. Lieber gleich zugeben, dass man Mist gebaut hat; wer einmal lügt, lügt immer und verliert das Vertrauen. Wer kennt nicht die Geschichte vom Jungen, der „Wolf“ gerufen hat?

Im Laufe meines Erwachsenenlebens hat sich das verändert: wer sich anlügen lässt, ist selber schuld. Nicht der Lügner ist in der Werteordnung unten sondern naive Gutmenschen, die sich übertölpeln lassen.

Nun reibe ich mir immer öfter verwundert die Augen und stelle fest, dass wir offenbar eine neue Stufe erreicht haben. Wahrheit oder Lüge an sich sind bedeutungslos geworden. Es spielt gar keine Rolle mehr, weil es nicht um Fakten sondern um Gefühle und Meinungen geht. Ausserdem kann nur Lügen, wer die Wahrheit kennt. Doch die ist, wie gesagt, bedeutungslos. Also braucht man sie nicht. Wahrheit ist relativ. Fakten waren gestern. Heute ist einzig die Wirkung einer Aussage entscheidend.

Beispiele

Die Wikipedia Seite zum Thema liefert als Beispiele in erster Linie den Amerikanischen Wahlkampf 2016 und die Aussagen rund um den „Brexit“.

Natürlich finden sich massenhaft weitere Beispiele ausserhalb von Wikipedia.

Das Leben scheint eine einzige Aneinanderreihung von Leserbriefen und Kommentarspalten geworden zu sein. Die Meinung, der Glaube, das Gefühl, die Botschaft stehen über allem.

Das Wichtigste ist es, die eigene Meinung zu zementieren. Fakten, welche Widersprüche aufdecken, führen nicht zum Umdenken, sondern verfestigen den Gedankenzement. Argumente dazu findet man zuhauf in den sogenannten „Verschwörungstheorien“.

Um das zu veranschaulichen 4 konkretere Beispiele

Heute in der Leserbriefspalte des Lokablattes folgender Satz: „… dass man festestellen muss, wie die beherrschenden Kräfte der Gesellschaft versuchen, schon kleine Kinder im Kindergarten mit neo-marxistischem Gedankengut zu indoktrinieren und zu manipulieren …“ Der Zusammenhang der Lesermeinung ist notabene die „wahnwitzige Gender-Ideologie“ in der gottlosen „postmodernen Welt“. Also haben wir die „Homo-Ehe“ offenbar dem Neo-Marxismus zu verdanken? Fakten, auf die sich der Verfasser beziehen könnte, werden im ganzen Leserbrief keine genannt. Ich danke allerdings dem Herrn, dass meine Kinder der Schule entwachsen sind.

Impfgegner und Impfgegnerinnen vertreten mit religiösem Eifer ihren Standpunkt, nämlich, dass Impfen schädlich ist, bis in ihrem Umfeld die Masern ausbrechen. Dann bleiben sie zu Hause, weil sie nicht geimpft sind. Insbesondere dann, wenn sie – also nur die Impfgegnerinnen – schwanger sind. Ob sie ihre Neugeborenen dann impfen?

Am 1. Januar 2000 feierte die ganze Welt das Millennium. Es gab sogar Leute, die mit Schiffen an die Datumsgrenze schipperten, um die Ersten im neuen Jahrtausend zu sein. Rein statistisch betrachtet, müssten darunter einige Leute gewesen sein, die den 1. Januar 2001, das eigentliche Millennium, nicht mehr erlebt haben. Das tut mir natürlich leid für sie. Es spielt aber keine Rolle, da sie sich eh nicht hätten belehren lassen.

Menschen, die einen BMI höher als 25 haben, sind schuld für die Kostenexplosion im Gesundheitswesen. Haben Sie nicht gewusst? Ja schauen Sie doch mal, wie die Leute schwerer werden und die Krankenkassenprämien steigen! Das ist 1 zu 1 vergleichbar mit der Storchenpopulation und der Geburtenrate von Menschen in Deutschland. Ich persönliche tippe allerdings auf das Gesundheitswesen selber als Ursache für die immer steigenden Prämien sowie die höhere Lebenserwartung für die Babyboomer. Aber das ist vermutlich bereits eine Verschwörungstheorie. 😉

Wann wird‘s gefährlich?

Das mit dem Millennium ist tatsächlich harmlos, solange niemand aus Euphorie eine Salve mit seinem Maschinengewehr versehentlich in die jubelnde Menge feuert. Das falsche Jahr und die ignoranten Feiernden kränken ein paar Besserwisser wie mich. Ansonsten kein Problem. Die meisten Leute sagen ja auch Miniskus, was mich ansatzweise gleich wahnsinnig macht wie Indentitätskarte. Aber eben, das ist alles Klugscheisserei. Abgesehen davon machte die Millenniumsfeier 2001 etwa gleich viel Freude wie eine aufgewärmte Pizza.

Richtig gefährlich wird es dann, wenn sich Volksmehrheiten offensichtlichen Unwahrheiten verpflichten – wissentlich oder unwissentlich –, um dann später zu behaupten, sie, also das Volk, also jeder und jede, hätten keine Schuld an den Folgen, weil man ja nicht hätte wissen können, dass … nicht hätte absehen können, dass … und selbst wenn, doch nichts dagegen hätte ausrichten können, weil … Und so weiter und so fort.

Was kommt nach dem postfaktischen Zeitalter?

Irgendwann werden die Menschen sich danach verzehren, doch endlich, endlich mal wieder die Wahrheit von der Lüge, bzw. Tatsachen von Meinungen zu unterscheiden. Dafür, so befürchte ich, werden die Menschen den Staat verantwortlich machen. Denn längst ist die Eigenverantwortung in Sachen Wahrheit kein Thema mehr. Was dann kommen wird, ist das „Wahrheitsministerium“, „The Ministry of Truth“. (Siehe 1984!)

Spätestens dann braucht sich niemand mehr Gedanken zu machen. Über gar nichts. Denn dafür werden die Menschen ihren Grossen Bruder haben. Und die Gedankenpolizei.

Alternativ, so stelle ich mir vor, stellen sich die Menschen ihre eigenen Wirklichkeiten zusammen. So wie wir heute unser eigenes Unterhaltungsprogramm gestalten, könnten die Leute in der Zukunft ihr eigenes, persönliches Erleben programmieren. Dabei werden sie vermutlich Hilfe benötigen. Nach dem Muster: „Andere Menschen haben auch dieses Leben programmiert.“

Tom Zai Verfasst von:

Tom Zai ist Autor, Verleger, Lehrer, Moderator, Musiker und noch vieles mehr.