Vergriffen

 

Irgendwann in früher Kindheit hörte ich das Adjektiv „vergriffen“ zum ersten Mal in Verbindung mit einem Buch. Es war wohl entweder das Liederbuch zum „Dachbudenplausch“ vom Schweizer Fernsehen oder der „Kilometerstein“, „Was Sarganserländer Frauen kochen“ oder irgendetwas anderes, was es nicht mehr zu kaufen gab/gibt – weil Kleinauflage oder so.

 

Damals war mir klar: Vergriffen ist der Ritterschlag für Bücher. Vergriffen steigert den Wert eines Exemplars ins Unermessliche, gibt es doch das Buch nicht mehr zu kaufen. Blöd, wer zu spät kommt. Selber schuld. Man hätte halt eher zuschlagen sollen.

Wie gut, dass meine Mutter die vergriffenen Bücher noch greifbar hatte. Wie besser, dass einige davon heute bei mir im Gestell stehen (Ja, Mum, die sind bei mir!).

 

Heute sehe ich das freilich anders. Als Autor kann ich sehr gut nachempfinden, wie sich das anfühlt, wenn ein Buch das Prädikat „vergriffen“ erhält. Das ist dann kein Ritterschlag, sondern eher einer ins Gesicht. Meine liebe Kollegin Alice Gabathuler erlebt gerade so etwas wie den Ausverkauf – um nicht zu sagen Verramschung – eines Teils ihrer Bücher, obwohl sie immer noch gefragt sind, nota bene. Viele Schreibende teilen ihr Schicksal und suchen den Ausweg in der Selbst-Publikation – durchaus mit Erfolg, übrigens.

 

Vergriffen kommt gemäss Duden vom veralteten Ausdruck „durch Greifen entfernen“ – also aus dem Gestell nehme ich an. Etwas das nur für Bücher gilt. Oder hat schon mal jemand etwas von vergriffenem Brot gehört.

„Ähm, tut mir leid, aber die Gipfeli*) sind gerade vergriffen.“

Nein, das geht nicht! Brötchen gehen aus – wohin keine Ahnung! Ich hoffe, sie machen sich einen schönen Tag.

 

Die kindliche Vorstellung, eines abgegriffenen, also vergriffenen (aus meinem Schweizerdeutschen Wortschatz geprägte Lesart), weil oft gelesenen, innig geliebten Buches mit zerfledderten Seiten ist mir lange erhalten geblieben. Im Zeitalter der Omniverfügbarkeit digitalisierter Inhalte erscheint der Begriff antiquiert, und genau da landen dann auch die vergriffenen Bücher: im Antiquariat. Antiquitäten sind doch wertvoll oder nicht?

 

So betrachtet würde es eventuell Sinn machen, die eigenen Bücher in der Gesamtauflage alle aufzukaufen und sie dann, Jahre nach ihrem Erscheinungsjahr, als wertvolle Antiquitäten unters Volk zu bringen. Verhält es sich damit gar wie bei gehaltvollen, gut gelagerten Weinen? – Mit dem Alter steigt der Wert.

 

„Mordsangast, ein ausgezeichneter Jahrgang, stammt aus der Feder der renommierten Jugendbuchautorin Alice Gabathuler. Grosse Teile davon wurden an einem Südosthang mit grandioser Aussicht geschrieben. Die schonungsvolle Pressung verlieh dem Buch jugendliche Frische, die sich über die Jahre zu einem reifen, dennoch prickelnden und unglaublich ausgewogenen Leserlebnis entwickelt hat … Jetzt lesereif!“

Wer kennt noch den idiotischen Spruch aus der Zeit, in der Frauen und Männer noch auf getrennten Seite in den Kirchenbänken hockten (also aus meiner Kindheit): „Mädchen, die pfeifen, lassen sich gerne greifen“? Das Resultat waren natürlich „Vergriffene Mädchen“ – das Pendant zu den „Verlorenen Jungs“.

 

Habe ich mich im Ton vergriffen?

 

Vielleicht ist es schon etwas krass, wenn ich darüber nachdenke, denn ich will hier keine zynischen Sprüche auf Kosten derer machen, an denen sich jemand vergriffen hat – etwas vom Übelsten.

Doch zwangsläufig komme ich darauf, wenn ich über das Wort nachdenke.

 

Und so bekommt es denn, aus Autorensicht, schon eine ziemlich bittere Note, wenn das eigene Buch „aus dem Sortiment genommen wird“. Ich kann nachvollziehen, dass man sich fragt: „Hat sich da jemand an meinem Buch vergriffen?“

 

*) Croissants, wie der oder die Deutsche sagt. Oder sind das eher Hörnchen? Mit oder ohne Streifen? Die aus Eichelmehl heissen übrigens Eichhörnchen.

 

P.S.

Vielleicht, wenn ich mal grad nicht an einem meiner noch nicht veröffentlichten, deswegen noch nicht vergriffenen Bücher schreibe, mache ich mir auch noch mal ein paar Gedanken zur englischsprachigen Version von „vergriffen“. „Out of print“ ermuntert geradezu einen Bogen zu den ausgegangen Brötchen zu schlagen.

 

Antiquariat 20081223

Bildquelle: Eva Kröcher auf commons/wikimedia.org

 

Tom Zai Verfasst von:

Tom Zai ist Autor, Verleger, Lehrer, Moderator, Musiker und noch vieles mehr.