Eine laufende Diskussion zur Frage, wie Autorinnen und Autoren gefördert werden können oder sollen. Teil 1 siehe hier. Heute Teil 2, Thema „UTOPIE“
Alice Gabathuler: „Was wäre denn deine Lösung? Hast du eine? Hast du eine Utopie?“
Hier meine Antwort:
Sorry für das Bild! Ich habe den Henkel extra nach hinten gedreht, in der Hoffnung, dass es einfach als Topf durchgehen wird. Das Ding kommt dem, was ich unter einem Topf verstehe, einfach am nächsten. Es soll ein Symbolbild sein für die Diskussion um die Kulturtöpfe. Dass dein Buch gerade da nicht reingehört, weiss ich natürlich schon – sowieso nicht in einen Nachttopf (ist übrigens ein Dekostück!). Und man soll ohnehin nicht alles in den selben Topf schmeissen, nicht wahr? Farblich allerdings passt er 1A zum Buch! Hoffe, du verzeihst mir die Bildsprache …
Deine Fragen haben mich ganz schön herausgefordert, insbesondere das Stichwort „Utopie“. Entstanden ist ein längerer, gedanklicher Ausflug über unser Gesellschaftssystem:
Meine Utopie ist eine Gesellschaft, die nicht hysterisch funktioniert, sondern auf Nachhaltigkeit ausgerichtet ist und verstanden hat, dass jedem Zahnrad im System seine Bedeutung zukommen soll, Stichwort „Systemdenken“.
Heute scheint alles und jedes entweder total hochgejubelt oder völlig niedergemacht zu werden. Alles, was sich zwischen einem Hype und einem Shitstorm befindet (also zwischen Gangnam Style und Stern’scher Brüderle-Empörung), wird mehr oder weniger ignoriert. Das hat massive politische Konsequenzen. Denn zwischen Polit-Arena und Sonderkommandoeinsätzen toben sich die Mächtigen in aller Stille aus. Es ist eine polarisierende Gesellschaft, die sich – eingeklemmt zwischen den Extremen – festgefahren hat, zum Vorteil einer superreichen Minderheit.
Gleichzeitig ist das Mass aller Dinge der Durchschnitt oder gerade ein bisschen darüber. So funktioniert unsere Schule zum Beispiel. Eine Ausrichtung am „Gros der Klasse“, eine Reduktion auf das durchschnittlich richtige Herbeten von Auswendiggelerntem soll am Ende zu überdurchschnittlichen Leistungen führen? Das führt eher zu einem Leben als Castingshow – oder zu dem einer Zuschauerin oder Zuschauer.
Wir brauchen eine Gesellschaftsordnung, die geistige Arbeit als Bereicherung betrachtet. Aber nicht in einem elitären Sinn – sozusagen im Erstklassabteil oder Penthouse des Lebens – sondern auf allen Ebenen. Dies erreichen wir, wenn es uns gelingt, den selbstbewussten, forschenden Entdeckergeist der Kinder und Jugendlichen zu fördern – und zwar in ihrem eigenen Tempo! Heisst: arbeiten wir mit Kompetenzplänen, völlig individualisiert und mit zeitgenössischen Medien! Dies wird dazu führen, dass am Ende der Volksschule alle Jugendlichen auf völlig unterschiedlichen Niveaus aus der Schule kommen. Das kommen sie zwar heute schon, aber es gäbe zwei grosse Unterschiede:
Es gäbe keine Gewinner und Verlierer. Weil alle das Gefühl hätten, sich selber etwas erarbeitet zu haben, das von der Gesellschaft geschätzt wird. Ein unabhängiger Geist muss das Ziel der Bildung sein!
Und grossen Einfluss hätte das vor allem auf die 40% links und rechts des Durchschnittsbereichs: Die einen wären viel weiter und die anderen hätten eine solide Basis auf der sie aufbauen können, weil sie an lebenslanges Lernen glauben. Es gibt geistig Behinderte, die Universitätsabschlüsse schaffen!
Im Moment sind wir eine So-Tun-Als-Ob-Gesellschaft mit einer So-Tun-Als-Ob-Schule. Das ist ein hartes Urteil für einen, der selber in der Schule arbeitet, aber so lange bei uns nach neun Jahren Unterricht Leute „rausgehen“ mit praktisch Null Kenntnissen oder sich die einen fast zu Tode langweilen, haben wir versagt.
Heute scheint es vor allem zwei grosse Ziele zu geben im Leben: Eine Mehrheit hinter sich zu lassen und sich persönlichen Wohlstand zu erarbeiten (also für sich selber und die eigenen Nachkommen). Letzteres ist auch zu erreichen, wenn das erstere fallengelassen wird. Wir brauchen eine Gesellschaft, die den Wert jedes einzelnen Menschen schätzt, weil auch jeder einzelne Mensch sich als für die Gesellschaft wertvoll erlebt. Solange aber die Ghettoisierung aufrechterhalten und ausgebaut wird, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn destruktive Kräfte immer stärker werden oder alle nur noch an sich selber denken. Früher gab es noch die Patrons. Ihnen gehörte die Firma und alle haben sich mit dieser Firma identifiziert. Heute gibt es nur noch Geschäftsführer, die mit einem 4-Jahreshorizont ihr persönliches Portfolio aufwerten wollen. Die einzelne Fachkraft ist ersetzbar und das gibt man ihr auch zu merken. Deswegen müssen wir nun den nächsten Schritt machen, von der Patrongesellschaft über die Geschäftsführergesellschaft zu einer Gesellschaft von autonomen Individuen, die sich freiwillig zusammentun (und ich meine das ganz sicher nicht kommunistisch) und entsprechend ihren Kompetenzen alles geben, um sich selber und die Menschheit als Ganzes weiterzuentwickeln.
Utopie ist ein starkes Wort und führt zu starken Visionen.
Zu Ende gedacht und zurück zum Leben einer Autorin, eines Autors also – auf kleinen Umwegen: Schaffen wir die Subventionen ab! Überall! Keine Zölle mehr, kein Protektionismus, keine finanzielle Förderung! In letzter Konsequenz soll die folgende Frage entscheidend sein: leistest du einen Beitrag, gemäss deinen Möglichkeiten, der für dein Umfeld von Bedeutung ist? Wie man das auf die Ebene der Herstellung von z.B. Markenkleidern, Bauteilen für Unterhaltungselektronik oder auf die Entsorgung von kontaminiertem Kühlwasser herunterbrechen kann, lasse ich hier mal unbeantwortet in der Luft hängen.
Autorinnen und Autoren haben die Aufgabe zu unterhalten, zu hinterfragen, etwas auf den Punkt zu bringen, zu informieren, ungeahnte Blickwinkel einzunehmen, Unmögliches zu Ende zu denken, usw., letztendlich Synapsen in den Gehirnen der Lesenden anzuregen und neue Vernetzungen zu ermöglichen. Wenn diese Arbeit gewürdigt wird, gleichwertig wie die Arbeit von Müllmännern oder jene einer Augenärztin (oder den Leuten, die Kleider und so weiter herstellen, den Planeten verpesten oder den Urwald abfackeln, siehe oben!), dann wird der Gesellschaft klar sein, dass Schreibende, alle Kulturschaffende logischerweise inklusive, ein Einkommen brauchen. Die Gesellschaft nämlich, welche bewusst auf das Buch verzichtet, ist eine totalitäre Diktatur nach dem Modell von Fahrenheit 451, 1984 und weiterer Dystopien.
Da haben wir es: das Gegenteil einer Utopie. Und in dystopischen Geschichten ist es immer der freie Geist, der eine Bedrohung für das System ist. Einen entscheidenden Beitrag zur Bildung des freien Geistes hat seit jeher die Literatur geleistet. Brigitte Ebert berichtet in ihrem Blog unter anderem von den Bücherverbrennungen im Nazi-Deutschland. Das Gegenteil von Büchern verbrennen, ist Bücher fördern – aber nicht durch „Fördertöpfe“ sondern durch flächendeckende Wertschätzung, die sich letztlich in einem Einkommen niederschlägt.
Unsere Gesellschaft lebt im Irrglauben, dass Erfolg in jedem Fall selber verdient ist, Misserfolg aber „outgesourcet“ werden kann oder, falls nicht, halt einfach selber verschuldet ist. Sie unterscheidet zwischen Gewinnern und Verlieren. Ein Beispiel hierzu: Die Körpergrösse hat einen direkten Einfluss auf das Einkommen (und dies ist nicht etwa wie bei der Storchenpopulation und den Geburten ein statistischer Witz). „10cm zusätzliche Körpergrösse steigern den Nettojahreslohn um CHF 5’235.10Fr“ (2004) – wie in diesem PDF von Thomas Gautschi und Dominik Hangartner, Universität Bern, zu lesen ist.
Witzig und symptomatisch in diesem Zusammenhang ist auch die zeitgleiche Diskussion um die Olympia-Milliarde und die Gehirn-Milliarde. Spätestens das zweite oder dritte Argument deckt sich auf beiden Seiten. Dann geht es um Standorterhaltung und Wettbewerb. Ich sage: Geben wir den Steuerzahlern die Milliarde zurück (oder besser beide) und lassen wir sie damit etwas Sinnvolles anfangen in einem System, wo nicht die Bereicherung einzelner im Vordergrund steht, sondern die gesunde Entwicklung der Allgemeinheit. (Zum Stichwort „gesund“: Ein Indikator dafür wäre zum Beispiel ein Gesundheitswesen, das nicht die privaten und öffentlichen Kassen aushöhlt und bei dem nicht die Erwirtschaftung von Einkünften im Vordergrund steht sondern eine vernünftige, menschenwürdige Behandlung für alle – und dies nicht nur in der Schweiz.)
Bis zu dieser utopischen Gesellschaft also – wo nicht Körpergrösse, Herkunft und andere unfaire Faktoren zählen – ist der Weg noch weit. Ich befürchte, dass bis dahin nicht nur Autorinnen und Autoren den Spagat zwischen Pragmatismus und Vision schaffen müssen.
Ich bin fest überzeugt, dass ein Evolutionssprung angesagt ist. Das Ergebnis wird eine völlig neue Gesellschaftsordnung sein. Dieses Grundthema verfolge ich in meinen Büchern. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass diese Gesellschaftsordnung eine von Menschen geschaffene sein wird.
Hier ein Auszug aus dem Manuskript meines Romans „Fortunas Rad“. An den Paralympics 2012 diskutieren zwei Männer, die sich nicht kennen, über die Zukunft des Behindertensports. Auslöser ist die Frage, ob Pistorius an den „normalen“ Spielen teilnehmen soll oder nicht.
„Der logische Evolutionsschritt einer hochtechnisierten Gesellschaft ist, dass die Technik
anfängt zu leben und das Leben technisiert wird: künstliche Intelligenz, künstliche Körper in
Symbiose mit menschlicher Denkart und Anatomie.“
„Muss nicht zwingend menschlich sein“, mischte sich Peter ein.
„Ah, du denkst mit!“
„Nicht immer schnell, aber immerhin.“
„Immerhin.“ Peter sah aus den Augenwinkeln, dass Nigel anerkennend nickte. Er selber hielt
den Kopf gerade und wagte es nicht, in seine Richtung zu blicken. Man konnte nie wissen, ob die
dunklen Gläser seiner Brille wirklich seine Augen verbargen.
„Wenn schliesslich die meisten Athleten mit bionischen Körperteilen ausgestattet sind,
werden die Paralympics wohl vor den Olympics stattfinden. Und wir bräuchten andere Stadien“,
sagte Nigel bestimmt.
„Weshalb?“
„Denk mal an den Speerwurf!“
„Wow!“, Peter nickte anerkennend.
„Womöglich findet Speerwerfen gar nicht mehr im Stadion statt sondern auf Schiffen im
offenen Meer. Ein bionischer Arm wird einen Speer vermutlich Dutzende von Meilen werfen. Das
ist viel zu gefährlich auf dem Festland.“
„Wow!“
„Pistorius ist übrigens nicht der einzige, der bei den gewöhnlichen Olympischen Spielen
angetreten ist. Aber alle Welt spricht halt von ihm. Die Medien haben dafür gesorgt.“
„Ah?“
„Ja, ja.“
Und dann breitete sich wieder Schweigen aus zwischen den beiden Männern, die in
Gedanken die Olympics 2040 durchspielten.
„Und, was hältst du davon?“, wollte Nigel endlich wissen.
„Von Cyborgs?“
„Ja, an Olympia.“
„Macht Sinn, finde ich. Die Schwierigkeit wird wohl sein, zu bestimmen, wann ein Mensch
noch ein Mensch ist und wann eine Maschine.“
„Denke ich auch.“
„Und“, kam Peter in Fahrt, „das eigentliche Problem wird vermutlich nicht die Hardware
sondern die Software sein.“
„Damit meinst du?“
„Das Gehirn.“
„Ist das nicht eher Hardware?“
„Du hast recht. Ich meine das, was im Gehirn drin ist. Die Gedanken, die Verhaltensmuster,
die Emotionen und so.“
„Ich verstehe.“
„Die Menschen nutzen alle ihre Fähigkeit immer zu ihrem Vorteil.“
„Um zu gewinnen?“
„Um sich über andere hinwegzusetzen.“
„Du meinst, sie schummeln, so wie diese Monique Van der Vorst, die gar nie gelähmt war
und immer noch behauptete, sie könne nicht gehen, als sie bereits einen Vertrag mit einem
Fahrrad-Team in der Tasche hatte?“
Nigel schien ein wandelndes Sportlexikon zu sein. Aber Peter wollte auf etwas anderes
hinaus:
„Die natürlich auch aber …“
„Du meinst das spanische Basketballteam, dessen Spieler viel zu clever waren für Leute, die
einen IQ von unter 70 haben müssten?“
„Schon, ja, aber ich meine nicht unbedingt Sportler.“
„Na, wen dann?“
„Soldaten.“
„Soldaten?“
„Ja, ist doch klar. Wenn du einen Speer 20 Kilometer weit schmettern kannst, dann kannst
du auch einen Sprengsatz weiter werfen als üblich. Oder auf Dächer springen, Meere
durchschwimmen, Wüsten durchrennen, Lasten tragen und Fliehkräfte aushalten.“
Nun sagte Nigel nichts mehr. Peter wollte seinen Gedanken noch ein bisschen
weiterspinnen. Er dachte daran, dass die Bionik eine völlig neue Gesellschaftsordnung erbringen
könnte. Aber irgendwie erschien ihm das Ganze zu komplex, um weiter mit Nigel darüber zu
philosophieren. In einem Pub, nach dem dritten Ale, wäre das vermutlich etwas anderes gewesen.
Er fragte sich sowieso, weswegen er seine privatesten Gedanken mit einem Fremden teilte.
Ausserdem meldete sich sein Pflichtgefühl. Er hatte sich verplaudert und suchte nach einem
Ausweg. Weil ihm nichts Schlaues einfiel, legte er Nigel eine Hand aufs Knie, erhob sich und sagte:
„War nett, mit dir zu plaudern, Nigel, aber ich muss los.“ Er zeigte auf seinen Pass. „Ich war
noch nicht überall.“
„Alles klar“, meinte Nigel, stand ebenfalls auf und gab Peter zum Abschied die Hand.
„Vielleicht sehen wir uns mal wieder.“
Er konnte es nicht lassen, dachte Peter. Aber es ärgerte ihn nicht wirklich. Also sagte er:
„Wenn du mir die entsprechenden Augen besorgst.“
Nigel O Sulivan lächelte versonnen, als Peter sich von ihm abwandte und sich entlang der
Bande durch das Stadion tastete.
Bild: Flickr.com, Felipe Venâncio