Dieser Film – 209 Seconds That Will Make You Question Your Entire Existence –, der aktuell viel Beachtung findet, ist wirklich eindrücklich und macht ein für allemal klar: wir sind klein, wir sind eigentlich vernachlässigbar, wir sind praktisch nichts.
Distanz
Der Blick vom Rand des bekannten Universums in die ungefähre Richtung unserer vernachlässigbaren Existenz schafft eine so unglaubliche Distanz zu den Dingen, dass man sich fragt, wozu man am Morgen überhaupt aus dem Bett gekrochen ist. Globale Lethargie müsste uns erfassen, eine eigentliche Schockstarre sollte einsetzen und dann noch ein letztes müdes Kopfschütteln zum einen letzten Satz, bevor wir uns wieder schlafen legen:
„Da können wir eh nichts ausrichten.“
Also lassen wir es bleiben!
The Powers of Ten
Dieser 209 Sekunden-Film (als ob das jetzt noch wichtig wäre, wie lange der dauert!) erinnert mich an einen anderen, älteren Film: The Powers of Ten. Doch es gibt einen massgeblichen Unterschied. Jener Film lässt uns nicht am Rande des Universums zurück, wo wir – um ein Bild von Douglas Adams aus „Hitchhiker’s Guide …“ zu verwenden – mit einem Glas Sekt in der Hand über die Endlichkeit der Zeit diskutieren und neben dem Getränk nur noch eines prickelnd finden: den ultimativen Showdown, wenn das Universum implodiert, zu einem letzten, alles verschlingenden Schwarzen Loch.
The Powers of Ten holt uns von jenem Punkt zurück und führt uns nach einem sagenhaften Trip durch Raum und Zeit hinein in den menschlichen Körper, in immer kleiner werdende Zonen bis in das Innere eines Protons.
Das Universum in uns drinnen
Das Verhältnis vom bekannten Rand des Universums bis zur Oberfläche unseres Körpers ist ungefähr gleich gross wie vom Rand unseres Körpers bis hinein ins kleinste bisher bekannte Teilchen. Und das meiste dazwischen – soviel ich davon verstanden habe – besteht aus Nichts. Wir stellen also so etwas wie die Mitte zwischen dem Rand des Universums und einem Quantenteilchen dar. Wenn sich so ein Quantum, das sich „zufällig“ in unserem Stammhirn befindet, in Relation zum Rand unseres Kopfes setzte, würde es sich nicht unglaublich klein und vernachlässigbar finden?
Aufwachen!
Nein, das ist nicht der Titel für (m)eine neue Zeitschrift (m)einer eben erst gegründeten, alles umfassenden Religion. Ich greife nur das Bild, von der sich für immer narkotisierenden Weltbevölkerung, wieder auf. Die Vorstellung, dass meine Haut eine Schnittstelle zwischen dem bekannten Kosmos und dem bekannten Mikrokosmos darstellt, finde ich ganz einfach prickelnd genug, aus dem Dornröschenschlaf aufzuschrecken.
Was ist denn nun wichtig? Leben im Widerspruch
Die grösste Schwierigkeit, so meine ich, für uns westliche Menschen, die wir uns aktuell an der Spitze der Evolution sehen, ist es, zu bestimmen, was wichtig ist und was nicht – wichtig im Sinn von wesentlich (Der Kleine Prinz lässt grüssen!). Meine Frau und ich konnten uns kürzlich kaum dazu entschliessen, eine grosse Kartonschachtel wegzuschmeissen, weil sie das perfekte Heim für einen Obdachlosen darstellte. Für uns ist es Abfall, für jemand anderen möglicherweise der Unterschied zwischen Erfrieren und Überleben.
Wir leben sehr widersprüchliche Leben, wir als Individuen und wir als Gesellschaften. Mal ehrlich, wie weit weg sind zum Beispiel der Krieg in Syrien oder der Holocaust in Ruanda oder der Strassenstrich in Burkina Faso? Ich behaupte ungefähr gleich weit entfernt wie UDFy-38135539, die am weitesten entfernte Galaxie (soweit bekannt). Das sind alles Themen für den Jahresrückblick oder den Jahrzehnterückblick oder den Jahrhundertrückblick oder … Sie merken es: The Powers of Ten. Und das einzige, was beim Betrachten dieser Rückblicke noch prickelt, ist der Sekt im Glas, mit dem ich auf die Zukunft anstosse.
So what?
Ich habe keine Ahnung. Ich vermute, dass es für die Zukunft wichtig sein wird, diese Widersprüchlichkeit unseres Daseins zu überwinden, das ganz Grosse mit dem ganz Kleinen in Verbindung zu bringen. Wie das gehen soll, wie gesagt, keine Ahnung.
Wenn in der Bibel die Engel das Bindeglied zwischen Himmel und Erde darstellen und sich an die Menschen wenden, beginnen sie ihre Botschaft mit den Worten: „Fürchtet euch nicht.“ Ich bin kein gläubiger Mensch mehr. Aber für mich ist das die wichtigste Weihnachtsbotschaft: sich nicht zu fürchten.
Nun stelle ich mir gerade die Himmlischen Heerscharen vor, wie sie alle die Sektgläser heben und auf uns anstossen, bevor sie sich wieder wichtigeren Dingen zuwenden.
Bild: By Azcolvin429 (Own work) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0) or GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html)], via Wikimedia Commons