Die Weisen aus dem Morgenland
„Es hat geklopft“, flüstere ich, weil das wirklich ungewöhnlich ist. „Ich hab’s auch gehört“, flüstert meine Frau zurück. „Das wird doch wohl nicht …“, sage ich etwas lauter, als ich aufstehe. Wir haben den 6. Dezember. Eigentlich der einzige Tag, an dem überhaupt noch an Türen geklopft wird. Und zwar vom Samichlaus. Alle anderen würden die Glocke betätigen, überlege ich und bin mir nicht sicher, ob ich mich beim Öffnen nicht besser seitlich neben die Tür stellen sollte. Es könnte sich um einen vorweihnächtlichen Überfall handeln. Den Nikolaus vortäuschende Rümaninnen mit Kalaschnikows. Man kennt das ja.
Doch vor der Tür stehen drei als Könige verkleidete Mädchen. Ein viertes trägt einen Stab mit einem Stern obendrauf. „Seid ihr nicht ein bisschen früh dran?“, frage ich verdutzt. „Oder seid ihr noch am Abarbeiten der Pendenzenliste vom 2015?“ Alter Zyniker, schimpfe ich mich selber. Wohlwissend, dass ich die Kids im Januar leerlaufen liess und das kirchliche Segensspruch-Abziehbildchen mit einem schlechten Gefühl verweigerte.
„Nein, nein, das hat schon alles seine Richtigkeit“, meldet sich eine Stimme aus der Dunkelheit, die sich hinter dem Lichtkegel unserer Türbeleuchtung doch recht bedrohlich anfühlt. Doch da zeigt sie sich auch schon, die Begleitperson, die eine Frau ist, eine Mutter eines der Mädchen, vermute ich. Kirchliche Fussarbeit ist bei den Katholiken traditionellerweise weiblich besetzt.
„Wir müssen dieses Jahr aus Sicherheitsgründen bereits im Dezember von Haus zu Haus ziehen“, flüstert die Stimme, die nun ein Gesicht hat. „Warum flüstern Sie?“, flüstere ich zurück. Heute muss wohl Flüstertag sein. „Na, aus Sicherheitsgründen. Habe ich doch gesagt.“ Ich kratze mich am Kopf und wünsche mir das Klingeln des Telefons herbei. Natürlich vergebens. Telefone kommen selten wie gerufen. Eigentlich meistens eher ungelegen. Genau wie die Sternsinger vor meiner Tür.
Ich setze eines meiner dämlichsten Gesichter auf, denn der Begleitschutz zückt ein Papier aus seiner Lastwagenplane-Umhängetasche, die er, beziehungsweise sie überkreuz trägt, als ob tatsächlich jemand einer Sternsinger-Begleitperson die Tasche entreissen wollte. Auf einer eng bedruckten A4-Seite informiert mich die Pfarrei, dass die Gefahr zu gross sei, dass sich rund um den 6. Januar, dem eigentlichen Dreikönigstag, echte syrische Flüchtlinge oder gar als Terroristen verkleidete gefakte syrische Flüchtlinge als Weise aus dem Morgenland ausgeben würden. Man wolle nichts riskieren. Es handle sich um reine Vorsichtsmassnahmen. Und so weiter und so fort. Ganz unten auf dem Blatt muss ich unterschreiben, bestätigen, dass ich alles verstanden habe und noch mehr. Dem Kleingedruckten auf der Rückseite entnehme ich, dass ich ausdrücklich auf jeglichen Haftungsanspruch von Seiten der Kirchgemeinde sowie auf die göttlichen Schutzpflicht verzichte, sollte ich im Januar doch unautorisierten Sternsingern die Tür öffnen. Denn im Januar, so das Schreiben, seien die autorisierten Sternsinger bereits in Sicherheit und ganz bestimmt nicht vor meiner Tür anzutreffen.
Schon singen die Mädchen erbarmungslos „De Stern vo Bethlehem“, jede in der ihr von Mutter Natur mitgegebenen Tonart. „Haben Sie einen Stift?“, presse ich hervor. Ich hätte vermutlich noch ganz andere Verzichtserklärungen unterschrieben. Ganz sicher die Gesangshörverzichtserklärung ohne Kostenfolge. Doch die gibt es nicht. Die müsste man den armen Mädchen direkt ins Gesicht sagen. Doch dazu habe ich den Mumm nicht. Wer will schon Kinder brüskieren, die freiwillig am Nikolaustag die Drei Könige spielen, unter Einsatz ihres noch jungen Lebens das Haus segnen wollen? PEGIDA, so knoble ich mir die Sache zurecht, PEGIDA ist anscheinend stärker als gedacht, wenn die Weisen aus dem Morgenland im Abendland nicht mehr sicher sind. Beziehungsweise recht scheinen sie zu haben, die Leute von PEGIDA, da die Islamisierung des Abendlandes nun sogar die sichere Durchführung des Sternsingens im Januar vernunmöglicht.
Als die Mädchen alle Strophen gesungen haben, zücke ich ein Zehnernötli und strecke es dem Mohrenkönig hin, dem man politisch korrekt eigentlich Schoko-König sagen sollte, gendermässig korrekt Schoko-Königin. „Habt ihr eigentlich den Samichlaus und den Schmutzli schon gesehen?“, frage ich aus lauter Verlegenheit, weil ich auch jetzt dieses Segens-Abziehbildli unter keinen Umständen annehmen will.
„Haben Sie es denn noch nicht gehört?“, fragt mich die Stimme, die nun wieder kein Gesicht hat, nur noch Füsse, da sie aus dem Lichtkegel verschwunden ist. „Nein, tut mir leid.“ „Die Samichlausbesuche sind doch alle abgesagt worden.“ „Nein“, entfährt es mir so ganz untypisch. Ich komme mir schon wie eine alte Klatschbase vor. „Doch“, sagt die Stimme dem ungeschriebenen Drehbuch folgend, „Männer mit Bärten, die Jutesäcke tragen, sind momentan einfach ein zu grosses Sicherheitsrisko.“
„Danke, liebe Frau, dass Sie mich gewarnt haben“, sage ich noch, fahre mir durch den Dreitagebart, schliesse rasch die Tür und klemme vorsichtshalber auch noch einen Stuhl unter die Klinke. Dann gehe ich in Gedanken versunken durch die Wohnstube an meiner Frau vorbei und die Treppe hoch. „Wo gehst du denn hin, Schatz?“ Schatz ist Gefahrenstufe 1, also vollkommen unbedenklich. „Ich geh mich rasieren, Spatz.“ Sie hebt eine Augenbraue. Welche Gefahrenstufe wohl Spatz für sie bedeutet?
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