Starkstrom

 

Alice Gabathuler –  2009 – Thienemann

ISBN 978 3 522 20018 9

 

 

 

Jonas‘ Leben geht buchstäblich den Bach runter.


Da ist der Übervater Karl, ein kontrollsüchtiger „Kotzbrocken“, der ihm das Gefühl gibt, alles falsch zu machen, die Mutter Erika, die wie ein Zombie funktioniert und ihr Hochzeitssilber in den Trümmern ihres Heims sucht, seine fünfjährige Schwester Emma, der Farbtupfer in seinem Leben (schon wegen der rosa Schwimmweste), die Lehrstelle, die er eigentlich nicht möchte, der Sondermüll suchende Nachbar Danuser, mit dem Jonas‘ Eltern im Dauerstreit leben, der Prophet Balthasar, der auf die Ankunft der UFOs wartet, ein Bergdorf, bewohnt von lauter „Originalen“ und ein Fernsehteam, das die ganze Katastrophe, vom Bach offengelegt, filmen und vermarkten will.


Da ist aber auch das Mädchen mit den Augen wie Bergseen und die Hardrockmusik von AC/DC & Co. In beides versinkt Jonas, der Welt um ihn herum ausgeliefert, und hofft irgendwo den Boden zu finden.


Alice Gabathuler schreibt ein absolut sensationelles Buch über einen Jungen der von Gleichstrom zu Wechselstrom und zurück gepolt wird, unter Volllast – High Voltage – vom Leben durchgeschüttelt. Der präzise Rhythmus ihrer Sprache geht unter die Haut wie ein Hardrocksong – verpasst dir die volle Dröhnung des Lebens, sozusagen, ohne dabei die subtilen Dinge zu vernachlässigen. Denn der Bach hat nicht nur Dinge offengelegt, sondern auch einiges zugeschüttet. So heisst es, an der Oberfläche kratzen, dabei die Höllenglocken hören auf dem Highway to Hell.


In ihrem Buch setzt Alice die Lunte an das Pulverfass aus dem Jonas‘ Leben besteht. Sei schmeisst eine Ladung T.N.T. nach ihren Protagonisten und richtet einen der schönsten Scherbenhaufen der Jugendliteratur an. Und dann begleitet sie ihre Figuren und lässt uns gleich aus mehreren Perspektiven daran teilhaben, wie sie versuchen, sich hochzurappeln. Dabei sind die Leute nur auf den ersten Blick „hard as a rock“. Mit einigen wenigen kantigen Strichen zeichnet Alice sie so, dass man in sie hineinzusehen glaubt. Man sieht die Auslegeordnung ihres Lebens, aufgestapelt wie die Möbel nach der grossen Flut.


„Starkstrom“ ist das erste Buch von Alice Gabathuler, das ich gelesen habe. (Es werden noch mehr werden.) Ich habe es unter anderem ausgesucht, weil der Titel nach meiner Ansicht einfach perfekt zur Autorin passt, die ich als echte Powerfrau erlebe. Das Buch hat sich als wahres Lesevergnügen erwiesen. Nie habe ich soviel Tiefgang auf solch – im wahrsten Sinne des Wortes „rockige“ Art gelesen. Es spricht den rebellischen Jugendlichen in mir an, der Träume hat, hadert, scheitert, nicht weiss wie ihm geschieht, aufsteht, hofft, weitermacht, den sturen Vater, der in seiner Verbissenheit zu „grounden“ droht, weil nur er weiss, wie das Leben funktioniert und auch den kauzigen Alten, der ich vielleicht einmal sein werde, der auf Suche nach dem Sondermüll in seinem Leben nochmal neuen Schwung zum Bau einer Arche findet.


Alice Gabathulers „Starkstrom“ bekommt von mir anstatt Sterne so viele Felsen, dass man damit locker ein oder zwei Siedlungen zuschütten könnte .


Apropos „Rock“, sie hat den Spruch zwar sicher schon hundertmal gehört, aber ich muss ihn trotzdem loswerden:

Ich lebe zwar nicht gerade Tür an Tür mit ihr, aber es tut doch gut, sie wenigstens in der Nähe zu haben. Das denken auch die vielen Jugendlichen, denen sie in zahllosen Lesungen und Workshops als authentische Vertreterin einer totgeglaubten Generation, neue Perspektiven auf „unser“ wie auch ihr eigenes Leben eröffnet.


Let’s rock the block, Alice!


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Tom Zai Verfasst von:

Tom Zai ist Autor, Verleger, Lehrer, Moderator, Musiker und noch vieles mehr.