Das Schokolademännchen – Interview mit Tom Zai übers Schreiben
Tom Zai, vielen Dank, dass Sie sich extra für dieses Interview Zeit nehmen.
Kein Problem. Ich nehme mir für alles Zeit. Das bin ich allein schon meinem Namen schuldig.
Bitte?
Zeit. Okay, man müsste es anders schreiben. Zai T. Aber das kommt mündlich nicht so rüber.
Aha. Verstehe. Trotzdem vielen Dank. Wollen wir beginnen?
Fire off!
Wie sind Sie eigentlich zum Schreiben gekommen?
Tja, das ist so eine Sache. Wir hatten da dieses Büchlein, das auch so hiess: „Mis Büechli“. Band 1 und 2. Damit lernten wir Lesen und ich glaube auch gleichzeitig Schreiben. So:
„Rösli auf. Paul auf. Rösli am Bach. Paul am Bach. Rösli schlaf. Paul schlaf. Rö…“
Ich glaube, wir haben verstanden.
Nun denn. So also, bin ich zum Schreiben gekommen. Meine Lehrerin hat es mir beigebracht.
Ich dachte eher an Kreatives Schreiben.
Alles klar. Die Antwort wird Ihnen nicht gefallen. Denn es war unter anderem wegen „Rösli auf. Paul auf.“ Das sind doch keine Sätze für Erstklässler, die bereits Jim Knopf kennen oder den Räuber Hotzenplotz! (Ja, schreiben Sie das ruhig mit Ausrufezeichen!) In „Mis Büechli 2“ gab es, soweit ich mich erinnere, wenigstens eine einzige ernstzunehmende Geschichte: „Das Schokolademännchen.“
Das ist Ihre Inspirationsquelle? Das Schokolademännchen? Sozusagen der Initiationstext, der Ihre Schriftstellerkarriere begründet hat?
Das „Schokoladenmännchen“ war und ist absoluter Bullshit.
Starke Worte, Tom Zai. Starke Worte.
Die Geschichte handelt von einem Männchen, das in einem Haus aus Schokolade wohnt. Dann kommen Kinder, und wollen etwas davon abhaben. Dem Männchen sozusagen das Haus anknabbern. Das endet schon bei Hänsel und Gretel in einer Tragödie. Die Kinder bitten die Elemente um Hilfe. Wind und Regen können dem Haus – fieses Männchen sei Dank – nichts anhaben. Dann aber …
Ja?
Dann aber kommt die Sonne. Und das ganze Haus läuft als Bach den Hügel runter, an dessen Fuss Erwachsene wie Kinder die Schokolade in Kesseln und Krügen auffangen. Ganz am Schluss kommt diese wirklich fiese-fiese Frage des Erzählers oder der Erzählerin an uns ABC-Schützen: „Hättet ihr dabei sein wollen?“
Und das finden Sie nicht gut? Dieses Einbinden der Leserinnen und Leser in die Geschichte? Heute würde man sagen, das gäbe dem Ganzen einen interaktiven Touch.
Die Kristallnacht war auch interaktiv.
Sie wollen jetzt nicht im Ernst die Kristallnacht mit dem Schokolademännchen in Verbindung bringen?
Sie haben mich provoziert.
Ich bitte Sie!
Nun gut. (Tom Zai verschränkt die Arme, hebt aber den rechten Zeigefinger und stülpt dabei die Unterlippe nach vorn.)
Erstens: das Schokoladenmännchen hat durchaus Potenzial für eine politische Botschaft. Ich könnte Ihnen hier ruck-zuck eine Mohrenkopf-Diskussion über den Zaun brechen. Aber das ist mir zu billig. Ich könnte auch, aus der Hüfte geschossen, sowohl antikapitalistisches Gedankengut als auch eine Antirassismus-Kampagne ausmachen.
Echt jetzt? Wegen der Kristallnacht?
Wegen der Braunen Brühe!
Hä?
Der Schokoladefluss. Schon vergessen?
Könnten wir das Gespräch in eine andere Richtung lenken?
Ich bin noch nicht bei zweitens angekommen. Und was sich zweitet …
Drittet sich?
Genau. Also zweitens: mir hat das Schokolademännchen einfach leid getan. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass uns der Autor oder die Autorin verarscht hat.
…?
Jedes Kind, also auch ich damals, weiss, dass die Sonne ohnehin, also ganz von selber, besonders im Sommer gnadenlos vom Himmel knallt. Das haben das Ozonloch und die Klimaerwärmung inzwischen noch verstärkt. Aber schon in den frühen 70ern, kann ich Ihnen versichern, war die Sonne ein ernstzunehmender Faktor punkto Aussentemperatur.
However, was ich eigentlich sagen will, ist, dass dieses Haus des Schokolademännchens – cool, ich kann auch Genitiv! – von Anfang an dem Untergang geweiht war. Wir haben es damals als Knirpse gespürt: Das ist voll die Bullshitologie. Okay, wir haben es ohne das VOLL gedacht. Das habe ich nur wegen der Einschaltquoten gesagt.
Wir messen hier keine Einschaltquoten.
Echt, jetzt?
Also ist diese Geschichte vor allem ein Appell dafür, Geduld zu üben?
Hören Sie mir überhaupt zu? Ich sagte, das sei Bullshit. Da gibt es keine Botschaft, die Sinn macht. Zumindest nicht für Sechsjährige, denen die Mutter bereits sämtliche Kästnerbücher vorgelesen hatte. Damals.
Was hat nun Kästner damit zu tun?
Kästner – und viele mehr – haben mir, via meine Mutter, in früher Kindheit etwas vollkommen Subversives vermittelt. Kästners Figuren zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass sie denken können. Eigenständig. Unter uns gesagt: Es ist ein absoluter Trugschluss, dass das Gehirn länger hält, wenn man es möglichst wenig gebraucht. By the way, das haben Neuropsychologen mittlerweile bestätigt.
Ach?
Ja, verdammt! Darf man in Ihrem Interview „verdammt“ sagen?
Weil Sie‘s sind.
Dann schick ich gleich ein „Nochmal“ hinterher. Aber ich sollte langsam zum dritten Punkt kommen.
Ich bitte darum.
In dieser Wüste, womit ich Schulhäuser und die Abwesenheit von wirklich packenden Geschichten meine, hat mein Verstand schon recht früh angefangen, Ersatzwelten zu erfinden. Bis ich die zu Papier bringen konnte, mussten allerdings ein paar Jahrzehnte ins Land streichen. Allerdings muss ich meiner Lehrerin von damals doch ein Kränzchen winden. Sie hat mir „Pitschi, das Kätzchen, das immer etwas anderes wollte“ erschlossen. (Obwohl Tom Zai, das „Anders“ in diesem Zusammenhang wohl grossschreiben würde, wie er hinter vorgehaltener Hand meint.)
Was hat das nun mit Ihnen zu tun, dem Autor Tom Zai?
Haben Sie‘s noch nicht gemerkt? Es geht um Geschichten. Um Fantasie! Mit Ausrufezeichen.
Fantasie?
Ja! Damals schrieben wir das noch mit PH, aber es geht – nicht nur beim Schreiben – immer noch ausschliesslich darum. Fantasielosigkeit kotzt mich an!
Ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Was, schon fertig?