Museumsgeschichten

 

Im Rahmen der Schlosslesung der Gruppe "Literatur im Sarganserland" durfte ich heute meinen Text zu dieser Vitrine lesen. Ich habe versucht, den Bogen von heute ins Mittelalter zu spannen – zwischen Pranger und Social Media.

Hier mein Text:

 

 

Game Over! (zum Vorlesen gedacht)

 

 

Grüessech!

 

Ich darf mich vorstellen. Ammann Emmanuel. Freunde nennen mich Mani. Sie können mir Herr Ammann sagen. Ich arbeite in der neu geschaffenen Schnittstelle der Bundesämter für Kommunikation, Umweltschutz und des Gleichstellungsbüros.

 

Ich möchte Ihnen für das zahlreiche Erscheinen, zur Einweihung dieser wunderbaren Anlage hier, danken. Sie zeigen damit, dass Sie sich der Wichtigkeit des Themas bewusst sind und im besten Fall sogar aktiv einen Beitrag leisten möchten zu unserer Kampagne „Game Over“.

 

Wenn nicht:

 

Selber schuld!

 

Selber schuld! oder Game Over sind die Slogans unserer Präventionskampagne zur Vermeidung selbst verschuldeter Schäden. Es kann nicht angehen, dass eine Mehrheit für Leichtsinnigkeiten einzelner aufkommen muss – marode Türme mit morschen Balken und steilen Treppen besteigen, zum Beispiel, soll nicht auch noch belohnt werden.

 

Meine Chefin hat gesagt, ich müsste am Anfang einen genderfreien Witz platzieren – was ich hiermit gemacht habe. Also Spass beiseite! Es geht darum, dem Outsourcen von selbst verursachten Problemen Einhalt zu gebieten.

 

Ich möchte nun mit einigen Fällen aus der Praxis illustrieren, warum diese Anlage nötig geworden ist und was mit „Selber schuld!“ gemeint ist. Zuerst ein ganz einfaches Beispiel:

 

Wer den Stinkefinger zeigt, ist

 

selber schuld!

 

Basta! Aber es kommt auf den Kontext an.

 

Einem Löwen ist es echt egal, wenn Sie ihm den Stinkefinger zeigen, ausser Sie halten den Arm durch die Gitterstäbe. Wer einem Löwen den Arm in den Käfig hält, ob mit oder ohne Stinkefinger, muss sich nicht wundern, wenn er die Prothese selber bezahlen muss.

Wenn aber zum Beispiel dieser Ottmar mit Doppel T in der Hitze des Gefechts sich zu dieser erwiesenermassen beleidigenden Geste hinreissen lässt, gibt es eine Pressekonferenz. Und da bekommt er dann die Chance, sich zu entschuldigen. Man kann den Mann verstehen, dass er behauptet hat, er hätte sich mit der Geste selber gemeint. Ich meine in einem Fussballstadion – hallo? Könnten sich schliesslich Tausende betroffen fühlen. Und die finden das höchstens dann lustig, wenn du Mr. Bean bist oder die dreijährige Evi vom Schorsch aus der Nordkurve. So gesehen ist der Nationaltrainer mit zwei Sperren und 7000.-Fr. Busse glimpflich davongekommen. Er wurde weder geschlagen noch angespuckt. Na gut, er hätte sagen können:

Der Schiri hat nicht nur eine Pfeife, er ist auch einer. Deswegen der Stinkefinger.“ Da hätte er zwar die meisten Zuschauenden auf seiner Seite gehabt. Aber alle Schiris gegen sich.

 

Ich hätte das ja viel unbürokratischer, pragmatischer gelöst. Ich hätte gesagt:

Alex, Freistosstraining!“ Das hätte ihn gelehrt, die Finger untenzulassen.

 

 

Wenn nun aber einer nicht ganz so berühmt ist wie der Ottmar mit Doppel T, sondern, sagen wir, nur ein Patrick mit CK, dann bekommt der eben keine Pressekonferenz, nachdem er im Strassenverkehr seinen Unmut mit der selben Geste zum Ausdruck gebracht hat. Und er kann lange behaupten, er hätte nur in der Nase gebohrt – mit dem Mittelfinger – mit seiner Frau telefoniert oder sich selber gemeint. Wenn’s also subito Haue gibt …

 

selber schuld.

 

Findet auch das Gericht übrigens.

 

Das beugt Betrug am Sozialstaat vor.

 

Früher ging das noch: Skinheads ärgern im Park, um sich ein halbes Jahr lang vor der Arbeit zu drücken und fette Kohle mit der Versicherung zu machen. Gehen Sie heute mal hin, wenn die aus ästhetischen Gründen zu zeitgenössischer Musik Reichskriegsfahnen schwingen und sagen zu denen:

Minoxidil!“

Wenn Sie Pech haben, gibt’s gleich eins auf die Rübe. Wenn Sie Glück haben, fragen die zuerst, was Sie damit meinen.

Minoxidil ist gemäss einer Studie des ‚Sterns‘ erwiesenermassen das einzig wirksame Mittel gegen Glatzen.“

 

Selber schuld! Und Geld gibt’s keines.

 

Überprüfen wir, ob Sie verstanden haben, was ich meine:

 

Sie sind die vierzehnjährige Bigi Hotz, die immer am Dienstagnachmittag im Zürich Hauptbahnhof auf die S-Bahn Richtung Rapperswil wechselt. Auf dem Perron sind fünf Gleichaltrige mit ihren Smartphones beschäftigt. Was tun Sie:

a) Sie gehen zu der Gruppe und fragen, ob sie auch nach Erlenbach fahren?

b) Sie nicken der Gruppe freundlich im Vorbeigehen zu?

c) Sie bleiben stehen, und lauschen, worüber die Girls im WhatsApp so quatschen?

 

Sie wählen

d) Stöpsel in die Ohren, auf den Boden starren, schnell vorbeigehen.

 

Falls Sie etwas anderes gewählt haben –

 

Selber schuld!

 

Wenn Sie unseren Ratgeber gelesen haben, werden Sie solche Kleinigkeiten locker meistern.

 

Eigentlich ist es mein Ratgeber, aber sagen Sie es nicht weiter, sonst gibt es Ärger mit meiner Chefin.

 

Die grössten Herausforderungen und Gefahren allerdings bietet ja das Internet. Haben Sie sich schon einmal gefragt, welche Konsequenzen ein harmloses Geschenk wie eine Digitalkamera für den lieben Opa haben kann? Die wenigsten sind sich bewusst, wie gefährlich das ist.

Das fängt ganz harmlos an – mit dem Studieren der Gebrauchsanweisung.

Nach drei Tagen ist er soweit, dass er den Akku mit geschlossenen Augen wechseln kann. Dann, nach einer Woche, der magische Moment, wenn er das erste Bild schiesst.

 

Haben Sie’s gemerkt? Allein schon der Ausdruck – ein Bild schiessen – hat etwas Aggressives. Da muss man sich nicht wundern, wenn es am Schluss knüppeldick kommt.

 

Der Opa schiesst also Bilder, vom Garten, vom Sonnenuntergang, von der Oma beim Unkraut jäten, beim Wäsche aufhängen, beim Schweinerennen an der Olma – also von den Schweinen natürlich – von Gotthardlokomotiven. Er wundert sich, wann der Film endlich voll sein wird. Nach Bild Nummer 775 meldet das Gerät endlich: „Die Speicherkarte ist voll. Wechseln Sie die Spei…“ Dies ist der gefährliche Moment. Der Opa realisiert:

Verdammt, ich brauche einen Computer!“

 

Ersparen wir uns die wochenlange Einkaufstour, das Lesen der Bedienungsanleitungen, die nervtötenden Anrufe beim Schwiegersohn und kürzen die Sache ab!

 

Zehn Monate später geht der Opa nicht mehr aufs Klo ohne sein i-Phone. Die Oma braucht nicht mehr länger darauf zu hoffen, dass er endlich ins Gästezimmer zieht – er verbringt seine Nächte am Computer – auf Pinterest und vor allem auf Facebook. Und dann macht er den längst erwarteten, entscheidenden Fehler:

 

Seine Enkelin, die in Erlenbach wohnt, und seine Facebookfreundin ist, hat eben gepostet:

Justin Bieber liebt mich nicht, seufz :'(( “

Welcher Opa würde da nicht eingreifen und seinem Goldschatz von der gleichnamigen Küste einen gutgemeinten Ratschlag mit auf den Weg geben? Und so kommentiert er:

Wenn dich dieser junge Mann nicht liebt, muss er Tomaten auf den Augen haben! Vergiss ihn einfach! Er ist es nicht wert.“

 

Eine halbe Woche später, am Dienstagnachmittag, gibt es eine „Beliebers gegen Bigi Hotz“-Gruppe mit 4236 Mitgliedern. Dazu gehören auch die fünf Gleichaltrigen, die mit ihren Smartphones beschäftigt sind. Die Enkeltochter geht wie immer zu ihrem Zug Richtung Erlenbach, mit Stöpseln in den Ohren, starrt auf den Boden und wäre froh, es gäbe noch die Möglichkeit

 

e) Loch graben und im Boden verschwinden.

 

Aber die gibt es nicht.

 

Was ist von so einem Opa zu halten? Oder von Bigis Mutter, die vor jenem runden Geburtstag so leichtfertig den Vorschlag machte, ihm doch endlich eine Digitalkamera zu schenken? Als sie am Spitalbett steht, fragt sie sich, wozu sie eigentlich über Jahre die Kieferkorrekturen finanziert haben und ob die Versicherung wenigstens die dritten Zähne bezahlen wird.

 

Aber das Verwaltungsgericht wird sie enttäuschen – müssen. Wer solche Väter, beziehungsweise Opas, hat und ihnen auch noch Digitalkameras schenkt ist …

 

selber schuld.

 

Denken Sie, es hilft, dass der Opa eine Woche später das Gespräch mit den fünf jungen Damen am Bahnhof sucht? Eine Überwachungskamera erfasst ihn, wie er auf die Mädchen zugeht und gleich seine Kamera zückt. Wird ihm jemand glauben, dass er nur Fotos seiner Enkelin zeigen will. Wie sie auf einer Krankenstation der Uniklinik liegt? Wo er sie in sämtlichen Stadien ihrer Rekonvaleszenz fotografiert hat? Bilder seiner Enkelin, deren einziges Verbrechen darin bestand, einen doofen Opa zu haben?

 

Vielleicht.

 

Tauchten da nicht plötzlich diese eindeutig zweideutigen Bilder auf Opas Facebook-Account auf, die gleich wieder vom Netz genommen werden müssen.

 

Eine Nahaufnahme von Josleen, wie sie Opa den Stinkefinger zeigt, erscheint anderntags in der meistgelesenen Tageszeitung mit der Schlagzeile: „Rote Karte für den Glüstler-Opi“.

 

Eben genau hier greift unser neues Programm und es freut uns sehr, dass im Schloss Sargans eine unserer Pilotanlagen stehen darf.

 

Nächste Woche also kommt der Opa hier in den Glasschrank – als erste Massnahme nur in den Halskragen – und wird konfrontiert mit den 7267 Kommentaren der aufgebrachten Beliebers, den Röntgenaufnahmen seiner Enkeltochter und den Twittertweets zum Hashtag #beliebersgrapscher.

 

Danach sollte er immun sein und wir lassen ihn wieder nach Hause. Als Test schicken wir eine Achtjährige an seine Tür, die ihm versucht einen Schoggitaler anzudrehen. Was würden Sie tun:

 

a) Einen Taler abkaufen?

b) Alle restlichen Taler abkaufen?

c) Nichts abkaufen?

d) Die Oma rufen?

 

Die richtige Antwort ist

 

e) Die Tür gar nicht erst öffnen.

 

Opa wird leider a) wählen.

 

Unvermeidlich folgt die nächste Stufe in unserer Pilotanlage: Dazu wird zuerst das schützende Glas entfernt und den Leuten Gelegenheit gegeben, ganz analog mit dem Opi in Kontakt zu treten. Befürchten müssen sie nichts, da seine Bewegungsfreiheit durch die Ketten doch recht eingeschränkt ist.

 

Sollte der Täter nach einer weiteren Woche und abschliessenden Tests immer noch uneinsichtig sein, erfolgt die Digitalisierung. Über die Kupferkontakte wird der Delinquent per Glasfaserkabel auf den Server der Bundesverwaltung geuploadet, wo er ganz sicher keinen Schaden mehr anrichten kann.

 

Werden Sie dabei sein?

 

Falls nicht:

 

Selber schuld!

 

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Messi viu mau!

 

 

 

 

 

Tom Zai Verfasst von:

Tom Zai ist Autor, Verleger, Lehrer, Moderator, Musiker und noch vieles mehr.