Lohnschere

Vor Jahren dachte man im Zusammenhang mit „Lohnschere“ wohl eher an Schäfer, die im Akkord irgendwelche Schafe scherten.

 

Heute versteht man darunter das Auseinanderdriften von niedrigen und hohen Löhnen. Und tatsächlich: sie driften, als ob sie Schiffe wären, immer schneller und schneller, voneinander weg.

 

Vor genau 19 Jahren war ich in Kenia. Ich war nicht vorbereitet darauf, dass die Ferienressorts eigentliche Festungen waren, die man vom Landweg mittels Zaun, bewachtem Schlagbaum und auch vom Seeweg mit einer Kordel abschirmen musste.

 

Was hat das mit der Lohnschere zu tun? „Unser“ Kellner, Juma, erklärte uns damals, dass ein Fahrrad seinem Jahressalär entspräche. Ergo, er hatte kein Fahrrad und ging über eine Stunde zu Fuss zur Arbeit.

 

Wir lernten damals ein Schweizer Pärchen kennen und verbrachten ein paar Tage miteinander. Er hatte irgendetwas mit Wirtschaft zu tun und erklärte uns das Gesetz des „Sich-Nach-Unten-Weitergebens-Von-Noch-So-Kleinen-Beträgen“. Mit anderen Worten: alle profitieren am Schluss. Selbst die Ärmsten der Armen würden wegen der Touristenströme letztendlich ein besseres Leben führen können. Heute bezeichnet man das als „Win-Win-Situation“.

 

Nun, setzen wir doch das besagte Fahrrad in Verhältnis zu meinem damaligen Lohn – ca. 70’000 Fr. Wir kommen auf etwa 1 : 100. Mit anderen Worten, Juma musste (oder muss immer noch) 100 Jahre arbeiten, um auf ein Jahresgehalt eines Schweizer Lehrers zu kommen. Zugegeben, seine Lebenshaltungskosten werden etwas tiefer sein. (Die Lebenshaltungskosten der Schweiz liegen durchschnittlich 61.8% über dem EU-Schnitt. Kein Vergleich mit Afrika also! Mehr Infos über dieses Thema siehe hier.)

 

Wie auch immer, ich hatte die Argumentation unseres Reisebegleiters nicht ganz nachvollziehen können. Mit dem enormen Graben zwischen Reich und Arm kam ich ganz einfach nicht klar und konnte nicht verstehen, wie um alles in der Welt der Arbeiter auf der Sissal-Plantage von meinem Urlaub profitieren würde.

 

Es gibt in unseren Breitengraden eine steigende Anzahl Firmen, deren Top-Löhne ein X-faches der tiefsten Löhne übersteigen. Mehr Infos zu diesem Thema liefert der interessante Beitrag der Tagesschau.

 

Gemäss dieser Quelle verdienen Top-Manager in der Schweiz durchschnittlich eine gute Million Franken. Wenn man rechnet, erkennt man aber auch locker, dass Juma mindestens 1000 Jahre arbeiten muss, um auf ein Jahressalär eines (durchschnittlichen) Spitzenverdieners in der Schweiz zu kommen.

 

Meine Meinung: höchste Zeit, dass die Lohnschere mal endlich zuschneidet!

 

 

Tom Zai Verfasst von:

Tom Zai ist Autor, Verleger, Lehrer, Moderator, Musiker und noch vieles mehr.