Kuhgeschichte

 

Einen ungünstigeren Zeitpunkt hätte sich Lisi, die älteste Kuh im Stall, fürs Kalbern nicht aussuchen können. Bauer Manfred, ein bekennender Rechter, lag mit der Grippe im Bett. Auch seine Frau Berti lag im Bett – aber nicht mit der Grippe und auch nicht im selben Bett. Sie lag mit Röbi, dem Tierarzt, der sich vor ein paar Monaten von seiner Frau Hedwig getrennt hatte.

Eigentlich hatte Hedwig sich von ihm getrennt, doch Röbi nahm es in solchen Dingen nicht allzu genau. Überhaupt war Genauigkeit nicht Röbis Stärke. Leidenschaft schon, dafür Ausdauer wiederum nicht, wie Berti eben feststellte. Röbi rutschte runter und schlief praktisch sofort ein.

Berti hörte einen Song von Oesch‘s die Dritten, als sie ihrem 4×4 die Sporen gab. In der engen Kurve vor dem Wald wollte der Wagen ausbrechen, als der Spurassistent oder die Spurassistentin ohne zu Zögern eingriff.

Noch im Ausrollen entsicherte Berti ihren Sicherheitsgurt, würgte den Motor ab und eilte in den Stall um nach dem Rechten zu schauen. Doch der war offenbar noch immer ans Bett gefesselt. Etwas, das sie demnächst mit Röbi – nur um ihm noch eine Chance zu geben – auch ausprobieren wollte.

Lisi hatte in der Zwischenzeit ihr Kalb bekommen. Es war schon fast trocken und stand auf unsicheren Beinen im Stroh. Nur um sicherzugehen rief Berti noch den Röbi an. Schliesslich war er der Tierarzt und Manfred hätte es nicht verstanden, wäre womöglich argwöhnisch geworden, wenn sie den Tierarzt nicht gerufen hätte.

Berti vergass zu erwähnen, dass es überhaupt nicht eilte, denn Röbi bretterte wie ein Besessener die Strasse zum Wald hoch, beseelt von der Vorstellung, einem Kalb das Leben zu retten und seine Liebste damit zu beeindrucken.

Leider hatte Röbi aus purer Liederlichkeit vergessen, den Spurassistenten oder die Spurassistentin zu aktivieren. Das Heck seines Autos brach in der engen Kurve vor dem Wald aus, Röbi reagierte über und verhaspelte sich mit der Lenkung.

Kurz und gut, er, beziehungsweise sein Auto, machte einen Abflug in den Wald, wo ihm eine stämmige Buche den Garaus machte. Also beiden, dem Auto und ihm.

Hedwig, die tragische Witwe, war dankbar, weil sie nun einiges mehr bekam, als wenn sie sich hätte scheiden lassen. Berti war froh, dass ihre Affäre nicht aufgeflogen war. Manfred war froh, dass er nun anstatt des Betts wieder Kühe und Schafe hüten konnte. Lisi war froh, dass alle so froh waren, und genoss beim Melken Lieder von Oesch‘s die Dritten und gab noch viel mehr Milch als je zuvor.

Tom Zai Verfasst von:

Tom Zai ist Autor, Verleger, Lehrer, Moderator, Musiker und noch vieles mehr.