Das ist für eine liebe Freundin. ‚Türlich habe ich liebe Freundinnen. Warum denn auch nicht? Habe ich mich in der Schule schon immer drüber aufgeregt. Wieso ausgerechnet ich nicht wie die Mädels auch einfach Freundinnen haben sollen dürfte. Ist mein gutes Recht. Freundinnen aussuchen, obschon man die einen durch puren Zufall trifft.
Da ist so vieles, das man sich nicht einfach aussuchen kann. Wie bei dieser Freundin eben – ich nenne sie mal Lotte, damit dieses „meine Freundin“-Gelaber endlich aufhört. Lotte also hat nicht zum ersten Mal, aber mal wieder deutlich, mitbekommen, dass man sich gerade auch entscheidende, also wirklich wichtige Dinge nicht immer aussuchen kann. Und da spreche ich jetzt nicht von Männern oder Kindern oder Chefs oder Falten im Gesicht.
Wie soll ich denn das nun erklären, so vage wie möglich und so konkret wie notwendig? Soll ja nicht ins Tratschen ausarten hier, nicht?
Also, sagen wir mal, die Lotte, die ist Innen-Einrichterin, Polydesignerin-3D, meinetwegen, so eine Möbelrückerin halt, die genau weiss, was, warum, wo und wie hingestellt werden muss, damit’s wirkt. Die Lotte, also, die hat ein Haus eingerichtet. Potz tausend! Die weiss, was sie tut, die Lotte. Da kommst du rein in dieses Haus, schaust dich um, sitzt ein wenig Probe, in der Küche, im Wohnzimmer, schaust dir die Bilder an und die Accessoires, so nennt man das doch, und es ist alles so stimmig, dass du, noch bevor du den Rest gesehen hast, am liebsten sämtlichen Redaktionen aller Traum-Einrichtungs-Hochglanz-Heftchen schreiben willst: „Lasst alles stehen und liegen und kommt her! Aber nehmt die Kameras mit und die grossen Scheinwerfer und jemanden, der schreiben kann! Schmeisst die Top-Story weg! Jetzt kommt Lotte!“
Könnt ihr euch ein Bild machen? Also … Nun kommt es.
Die Lotte, die hat nämlich die Rechnung sozusagen ohne den Wirt gemacht. Das heisst, es war eher umgekehrt. Der Wirt hat die Lotte eigentlich nicht gefragt, was sie haben möchte. Nun könnt ihr nicht mehr folgen, nicht wahr? Es ist ja auch nicht der Wirt, der nicht gefragt hat, sondern der Baumeister, also dieser Schlüssel-Fertig-Alles-Mit-Dabei-Grossbauunternehmer für den sie einrichtet. Der hat ja immer Termindruck, der arme Kerl. Ist ja logisch. Schlüsselfertig. Eben! Und der lässt ja auch lieber mal die Lotte arbeiten, bis es dann bei ihm so richtig losgeht. Also lässt der die Lotte den ganzen Innenausbau inklusive Einrichtung durchstylen, bis er sich an die Hülle macht.
Und das macht er dann im Alleingang. Ein Macher ist er und weiss, was er tut, beziehungsweise tun lässt. Aus dem Nichts, ratscht, ist die ganze Fassade fertig, hochgezogen, verputzt und gestrichen. Das Gerüst ist weg, mitsamt diesen temporär arbeitenden Fassenden-Mach-Leuten. Deshalb war das ja auch alles auf den letzten Drücker. Weil die befristet waren. Ausgabenoptimierung. Aber fertig ist es, das Haus. Das ist schon mal was. Aber die Lotte, die weiss noch nichts davon, als sie sich auf den Weg macht, um den Leuten vom Traumideen-Heft aufzuschliessen.
Und wie die Lotte vorfährt, setzt sie ihren Wagen beinahe in die Mauer, so sehr meint sie im falschen Film zu sein. Beinahe beisst sie ins Lenkrad. Als sie die alten Zahnabdrücke sieht, stutzt sie. Ja wo ist’n das Haus hin, das ich eingerichtet habe?, fragt sie sich ungläubig, als sie schon den Schlüssel probiert. Er passt. Aber sonst passt gar nichts. Das Innen hat mit dem Aussen nichts zu tun. Das ist, als ob man durch eine Kirchenpforte geht und dann im Wohnzimmer von Tante Grete steht. Ihr kennt die Tante Grete jetzt nicht. Schon klar. Stellt euch einfach was anderes vor: Aussen Bundeshaus – innen ein Secondhand-Buchladen, aussen ein Büroglaushaus – innen ein Montessori Kindergarten, aussen ein Wohnwagen – innen ein Vasella-Rittersaal. Wir können das noch weiterspinnen, aber es sollte klargeworden sein, worum’s geht: den Kontext.
Ja, und die Lotte, die ist so was von stinkig und auch enttäuscht. Schliesslich hat sie lange und hart gearbeitet und die Leute von den Traum-Einrichtungs-Hochglanz-Heftchen stehen praktisch schon auf dem Parkplatz. Und das Einzige, was sie noch tun kann, die Lotte, ist, sie schon bei der Einfahrt in die Nemannstrasse abzufangen und den Leuten Brillen aufzusetzen. So Farbveränderungsbrillen, die auch gleich noch strukturell was verändern. Aber falls sie die nicht auf die Schnelle auftreiben kann, die Brillen, bleibt ihr nichts anderes übrig, als die Magazin-Leute vom People-Magazin auf den Schock vorzubereiten und zuzutexten. Doch wer glaubt schon einer Polydesignerin-3D, dass in diesem Fall für einmal aussen pfui ist und innen hui? Das wird auf der Nemannstrasse eine Menge ganz langer schwarzer Streifen geben, wenn die alle gleich wieder durchstarten, denkt sich Lotte.
Und dann sind da ja auch noch die Mieter, die zukünftigen. Da will ja kein Mensch wohnen, sagt sich Lotte. Wer will schon seine Freunde zum hässlichsten Haus in der Strasse lotsen? „Du kommst vom Bahnhof, dann links in die Nemannstrasse einfach bis zum Haus, das so hässlich ist, dass es schon unter Denkmalschutz stand, bevor es ganz fertig war.“ Da hilft es nicht, dass man wenigstens innen in der totalen Traumwohnung, möbliert, warm, drei Monate gratis wohnt und nie mehr wieder raus möchte. Weil da kein Schwein je reingehen wird. Das ist das Problem.
Die Lotte, die ist gleichzeitig so was von stinkig und gelähmt. Das kann man sich ja überhaupt gar nicht vorstellen. Das ist, wie wenn ein Grizzly mitten im Angriff, also mit fast sechzig Sachen, von
Mister Frost persönlich schockgefroren wird. So steht er dann da, der Grizzly, und weiss nicht, ob er sich aus dem Eisklotz rausschnauben oder erst mal eine Runde die Augen schliessen soll.
Ich will ihr sagen, „Lotte“, will ich ihr sagen, „das Leben ist kein Ponyhof.“ Dabei merke ich, wie verlogen dieser Vergleich ist. Da liegt eine Menge Scheisse herum auf einem Ponyhof. Und dann machen die Viecher ja sogar im Gehen ihr Geschäft. Und wenn man nichts unternimmt, steht man bald knöcheltief im Mist, auf dem Ponyhof. Schlechter Vergleich also! Einen Ponyhof wünsche ich der Lotte also nicht.
„Abwarten und Tee trinken“, fällt mir ein. Aber die Lotte will keinen Tee. Sie will Whisky. Also sage ich, um abzulenken: „Es wird nicht so heiss gegessen, wie’s gekocht wird.“ Aber ihr ist der Appetit vergangen. Da fällt mir ein, was Tante Grete – ja DIE Tante Grete – in ausweglosen Situationen immer sagt:
„Je-ema-ei Schötaka!“
Das ist Tante-Gretisch und muss für Nicht-Schamanen übersetzt werden: „Jetzt erst mal eine schöne Tasse Kaffee.“ Das hat noch immer gutgetan und sicher keinem geschadet – ausser den zwei Promille, die beim Kaffeetrinken gestorben sind. Vermutlich ist es eh schwierig, einen Zusammenhang herzustellen. Da haben wir’s wieder: KONTEXT.
Also, liebe Lotte, geh mal zur Tante Grete und trink ’ne schöne Tasse! Die Tante Grete, die findest du leicht. Die wohnt im Reservat. Ihr Tipi ist so richtig schön schwarz, wie der Kaffee, und wenn du dann bei ihr im Wohnzimmer stehst und dem Rauch nachblickst, wie er durchs Abzugsloch in den Nachthimmel zieht, spürst du, dass Innen und Aussen wieder im Einklang sind. Zumindest bei der Tante Grete. Dann hebt ihr die Tassen und trinkt auf die Polydesingerinnen-3D und darauf, dass der Schlüssel-Fertig-Alles-Mit-Dabei-Grossbauunternehmer nun auch gemerkt hat, wo der Hammer hängt.
An seinem Computerbildschirm hängt mittlerweile ein Post-it-Zettel, der in krassem Gegensatz zur von Lotte durchgestylten Einrichtung steht. „Frag doch mal die Lotte!“, steht drauf und gleich daneben, „Der nach dem Golf tanzt!“ Er spürt eine vitale Frische, fühlt sich seltsam mit dem Universum verbunden – und auch mit seiner Frau wie schon lange nicht mehr -, holt tief Luft und lässt seine Sekretärin kommen. „Je-ema-ei Schötaka!“, sagt er ihr mit der Filmstimme von Grizzly Adams, ohne zu wissen warum.
„Frag doch mal die Lotte!“, sticht ihm nochmal ins Auge. Er greift zum Telefon.
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