Die Kirche ist einmal nicht sakraler Ort, eher Konzertsaal, obschon die meisten Lieder religiösen Inhalts sind. Jugendliche und junge Erwachsene stehen im Chor auf der Tribüne, davor eine kleine Band und der Dirigent: der Schulchor.
Die Melancholie des Nordens – die ersten Stücke stammen aus Schwermutslandien – kommt glaubwürdig ‚rüber. Aber der Konzertabend strebt zielgerichtet, beinahe gierig dem Höhepunkt entgegen: der Gospel Mass.
Sie wird angekündigt als sechsteiliges Werk, das kein störendes Geklatsche zwischen den einzelnen Teilen erträgt. Der Solist tritt ins Schweinwerferlicht, der Dirigent muss sich erst einmal setzen. „Weswegen sitzt der?“, fragen sich in diesem Moment die Leute in den Bänken, währenddessen der Solist die Augen schliesst und versucht seine Aura auf Kirchenraumgrösse aufzublähen. Es gelingt ihm nicht, weswegen der Dirigent wohl noch etwas zögert, bevor er dann doch wieder aufsteht und – nach einer weiteren Kontemplationsübung – dem Pianisten endlich den erlösenden Einsatz gibt.
Wie es eine Gospel Mass so an sich hat, geht es anfangs eher meditativ zu und her. Dann aber schaukelt sie sich hoch, heizt den Kirchenraum sozusagen auf äquatoriale Temperaturen. Aber man darf nicht klatschen zwischen den Stücken, ohne das Sakrileg eines „Die-Stimmung-Durch-Unautorisiertes-Klatschen-Zerstörens“ zu begehen. Man könnte sich die Frage stellen, ob mitteleuropäische Dirigenten überhaupt ansatzweise eine afroamerikanische Stimmung in dem ohnehin zwinglianisch geprägten Raum schaffen können. Aber man stellt sich diese rhetorische Frage lieber nicht.
Doch die Dame, zwei Bankreihen vor mir, kann sich beim dritten fehlenden Applaus schon kaum mehr beherrschen. Bei vierten Stück schliesslich – es ist besonders schwungvoll, halt so mitteleuropäisch-afroamerikanischer Babtistengroove irgendwie – gehen die Pferde mit ihr durch. Sie stellt mit einem Kopfnicken nach links und einem nach rechts sicher, dass ihre Genossinnen folgen werden und klatscht dann los und mit dem Rhythmus mit, als ob es das Letzte wäre, was sie in diesem irdischen Leben zu tun gedachte. Doch sie kann sich noch steigern und vervollkommnet mit synkopischen Klatscheinschüben den Gesamtsound.
Eine richtige Klatschtante gibt nicht auf, wenn andere nicht mitgehen. Man erkennt sie daran, dass sie auch muttergottseelenallein minutenlang vor sich hinklatschen kann, ohne je auf die Idee zu kommen, dass sie womöglich eine Meise hätte. Eine wirkliche Klatschtante klatscht reflexartig. Das ist so etwas wie triebgesteuertes Vor-Sich-Hinklatschen. Sie kann nichts dafür. Aber sie schaut wieder aufmunternd nach links und rechts, hoffend, endlich weitere Leidensgenossinnen soweit zu kriegen, mit ihrer Pace mitzugehen.
Immer zwischen den Stücken, dann wenn alle anderen klatschen möchten, kann auch sie sich beherrschen. Sie spürt die Würde des Werks und schliesslich wurde man dazu aufgefordert, sich in Zurückhaltung zu üben, des Spannungsbogens willen.
Also wartet sie die nächste Gelegenheit ab. Sobald das Stück auch nur den Hauch eines klatschbaren Rhythmus‘ bietet, legt sie los, noch unverfrorener, noch unverschämter.
Ja, wären wir Afroamerikaner, wir würden Klatschverbote vermutlich dem Teufel zuschreiben. Doch hier, in der Schweiz, entlädt sich der ganze aufgestaute Klatschverzicht in einer stehenden Ovation am Ende der Gospel Mass.
Eines muss ich der Klatschtante zugestehen: sie hat in wohl in hehrer Absicht gehandelt. Womöglich hat sie einfach versucht, den armen Sängerinnen und Sängern in Chor Schützenhilfe zu leisten. Diese haben sich ja kaum bewegt, sind wie festgenagelt an ihren Plätzen gestanden. Sie hat erkannt, dass der Chor vom Dirigenten plombiert worden ist, ein Maserati mit angezogener Handbremse, im ersten Gang mit Standgas sozusagen.
Ich habe es zu spät erkannt, was die Klatschtante versucht hat. Ich habe sie und den Chor im Stich gelassen.
„Would the people in the cheaper seats clap your hands. And the rest of you, if you’ll, just rattle your jewelry.“ (John Lennon)