Über einen Tweet von Wibke Ladwig bin ich auf diesen Artikel über Kettenbriefe gestossen: Eltern, klärt eure Brut auf.
Unsere Tochter hat neulich auch einen Kettenbrief bekommen – einen analogen.
Es geht um den Brief, der angeblich seit 1998 von der Post überwacht, ohne je unterbrochen zu sein, unterwegs ist. Er soll den Eintrag ins Guinessbuch der Rekorde schaffen. Gerade unsere Tochter soll sie nicht unterbrechen, die Kette, ansonsten sie im besten Fall eine Spielverderberin ist, im schlechtesten wohl dafür verantwortlich, dass der Eintrag ins Buch nicht klappt. Ausserdem würde sie die Mühe von 14 Jahren zerstören. Furchtbar!
Die Sache mit dem Kettenbrief funktioniert im 5-Tages-Rhythmus. Also alle fünf Tage, je sechs neue Adressen und so weiter. Die Belohnung im Fall unserer Tochter sind Ansichtskarten (hatten wir schon 1975 oder?). Die sollen nach vier Runden eintrudeln.
Im aktuellen Beispiel kommen nach 3 Runden bereits 216 Karten zusammen. Es braucht aber 4 Runden, bis die Karten eintreffen, also sollten es dann 1296 Karten sein – im Brief steht 218! Da hat jemand einen unbedeutenden Rechenfehler gemacht und auch noch eine ganze Runde unterschlagen. Umso besser, denkt man, dann gibt’s eben noch mehr Karten – wenn da nur nicht das Jahr 1998 wäre, in dem alles begonnen haben soll.
Wurde, wie behauptet, die Kette nie unterbrochen, dann wären wir nach 14 Jahren (also Ende 2012) ungefähr in Runde 1000!
Hier eine Berechnung, die beweist, dass bereits nach Runde 50, also nach etwa 8 Monaten, das ganze Universum beteiligt sein müsste.
Runde 1
Vierte Stelle
6 Kinder
Runde 2
Dritte Stelle
36 Kinder
Runde 3
Zweite Stelle
216 Kinder
Runde 4 (15 Tage)
Erste Stelle
1296 Kinder
Runde 7 (ein Monat)
279’936 Kinder
Runde 12
Alle Kinder dieser Erde
2’176’782’336 Kinder
Runde 13
6 Erden
Runde 24
2’176’782’336 Erden
Runde 27
1 Galaxie
Runde 28
6 Galaxien
Runde 50
Das ganze Universum!
Runde 51 (8 Monate)
?
Fazit: Wir haben keine Chance gegen etwas, das alle fünf Tage mit sechs (oder sogar mehr) multipliziert wird.
Eine andere Überlegung: der besonders schlaue Mensch, der das gestartet hat, müsste bereits nach zwei Monaten (Runde 13) zum zweiten Mal mitspielen, damit die Kette weitergeht (vorausgesetzt, jedes Kind der Erde macht genau einmal mit – was natürlich idiotisch ist!) Bereits in Runde 14 würde er dann 6 Mal mitmachen, eine Runde später 36 Mal. Ab dann ginge die Sache ganz schön ins Geld und würde vermutlich die Papierindustrie, die Post und jedes einzelne Kind dieser Erde in Kürze erledigen.
Ergebnis: die Weltbevölkerung würde vernichtet werden. (Durch einen Kettenbrief, jawoll!)
Aus diesem Grund sind Kettenbriefe in der Schweiz verboten, um die Welt vor dem Untergang zu bewahren.
Ich habe nur bis Runde 51 gerechnet. Stellt euch vor, ich müsste noch weitere 949 Runden berechnen, also 6 hoch 1000(!) insgesamt. Das schafft leider kein Onlinerechner mehr.
Neuerdings werden solche Kettenbriefe über Whatsapp und ähnliches versendet. Zum Teil werden da auch ganz perfide Drohungen ausgesprochen – so an Voodoo anmutende Flüche. Mit ein bisschen Mathe kann man den Kindern die Angst davor nehmen, Nein zu sagen.
Nein sagen, ist ja nicht ganz einfach. Und sich von "höheren Mächten" völlig unabhängig fühlen schon gar nicht.
Ich schreibe gerade an einem Roman, in dem der Protagonist gerade die Sache mit dem Schicksal überhaupt nicht im Griff hat. Hier ein Auszug:
Auf dem Weg zur Wohnung spielte Peter das „Schicksalsspiel“. Das waren einfache Wenn-Dann-Sätze wie zum Beispiel: „Wenn der nächste Bus die Nummer 31 ist, dann wird das ein toller Abend.“ Es funktionierte auch mit Abzählen von Gitterstäben. Eine gerade Zahl bedeutete beispielsweise ein besseres Verhältnis zu Henriette. Im Grunde genommen war das nichts anderes als eine ausgebaute Variante des Zerpflückens von Margeritenblüten. Wäre er verliebt gewesen, hätte er vielleicht getestet, ob die Angebetete seine Liebe erwidern würde. Etwas, das er im Fall von Henriette bestimmt nicht riskieren würde. So beschränkte er sich auf einfache Dinge, die Zukunft betreffend. Der Trick dabei war, nicht gleich beim ersten negativen Ereignis aufzugeben. Die Erfahrung zeigte, dass irgendwann schon der richtige Bus, die günstige Anzahl, die gewünschte Farbe kam. Es war eine Frage der Geduld. Peter war einer jener Menschen, die auch nach vier Stunden erfolglosen Angelns immer noch jede Minute mit einem Biss rechneten. Wie beim Eile-Mit-Weile-Spiel eröffnete jeder neue Wurf – ob mit der Angelrute oder dem Würfel – neue Möglichkeiten. Das Problem beim Fische fangen, oder bei weit wichtigeren Fängen im Leben, war eben, dass man nie wissen konnte, wann es Zeit war, aufzugeben. Im Aufgeben war Peter schlecht. Selbst wenn er eigentlich wusste, dass Bus Nummer 31 gar nicht in dieser Gegend verkehrte, ihm lauter Vierzehner begegneten, klammerte er sich an die Vorstellung, dass womöglich doch noch eine 31, auf einer Leerfahrt ins Depot zum Beispiel, an ihm vorbeifahren würde. Als er sein Wohnhaus erreicht hatte, blieb er noch fünf Minuten auf der Strasse stehen. Dann gab er doch auf. Vielleicht würde er zufällig eine 31 aus dem Fenster erspähen oder im Fernsehprogramm. Das wollte er auch gelten lassen. Im schlimmsten Fall konnte er immer noch in die City fahren, mit der 14, in eine Gegend, wo die Chancen auf Einunddreissiger erheblich höher waren. Manchmal, so war er überzeugt, musste man dem Schicksal etwas auf die Sprünge helfen. Vorerst stellte er sich auf einen todlangweiligen Abend ein. Er legte sich aufs Sofa und war praktisch sofort eingeschlafen.
