Kein unbeschriebenes Blatt

 

Die sprichwörtliche Angst vor dem leeren Blatt packt Autorinnen und Autoren wohl zusehends seltener. Vielleicht gibt es noch einige wenige, die Haare raufend, Kaffee trinkend, etwas Stärkeres trinkend in verrauchten Räumen verzweifelt auf und ab gehen, in der Hoffnung, endlich eine Idee für den nächsten Roman zu haben.

 

Ich halte mich – seit ich dieses fantastische Büchlein „Zehn Gebote des Schreibens“ bekommen habe – an Alessandro Baricco:

 

„Fange nicht an, eine Geschichte zu schreiben, wenn du nicht weisst, wie sie endet. Das kann jeder.“

 

Getreu diesem Grundsatz habe ich einige Anfänge geschrieben, um ein mögliches Ende sozusagen im Vorbeigehen zu erhaschen (Nachzulesen unter der Rubrik „Beginn“). Doch das ist Herumstochern im Nebel und ich habe nicht wirklich damit gerechnet, dass ich mit dieser Tour durchkomme.

 

Dabei weiss ich ganz genau, wie ich vorgehe, um mich Schritt für Schritt an den (über-)nächsten Roman heranzutasten. Ein Ereignis, über das ich nächstens berichten werde, hat mir nun einen derartigen Motivationsschub versetzt, dass ich mich endlich an die Arbeit gemacht habe.

 

Romane haben lange Vorlaufzeiten. Das Manuskript für „Fortunas Rad“, mein nächstes Buch, ist noch in der 6. Überarbeitungsphase, und meine Gedanken kreisen schon ständig darum, wie jene Geschichte weitererzählt werden kann.

 

Das ist die Phase, wo ich ganz kribbelig bin, 1000 Ideen im Kopf habe und 1000 Türen vor mir sehe. Eine Türe öffnen und hineintreten bedeutet aber vor allem auch, 999 Türen verschlossen zu lassen. Das ist nicht die Verzweiflung am leeren Blatt, es ist jene der noch geschlossenen Türen. Aber so ist das Leben – in der Realität und in der Fantasie – es ist eine Verkettung von Ereignissen.

 

Also öffne ich eine Türe, folge dem Gang, finde neue Türen, merke mir den Weg (mit dem Faden der Ariadne), renne zurück, öffne eine weitere Türe und folge einem neuen Weg, einen Faden anderer Farbe abwickelnd. Dann fange ich an, Tunnel zu schlagen und die versteckten Korridore zu verbinden. Es entsteht ein Netz, in dem ich hoffe, die Spinne zu sein und nicht die Fliege.

 

Was dabei auf dem Computer entsteht, ist eine Mind-Map, die im Moment Brain-Storm Charakter an der Schwelle zum Plot hat. Das Plotten ist Phase 3. Vorher mache ich mir Gedanken über die Protagonisten und Nebenfiguren – auch im Mind-Map.

 

Heute ist mir eine Figur auf unerwartete Weise zugeflogen. Ich habe sie sofort ins Herz geschlossen. Aber ich bin ziemlich sicher, dass wir eine ganze Menge durchmachen müssen, bis die Geschichte zu Ende geschrieben ist.

 

Hier die aktuelle Karte meines „Gehirn-Gewitters“. Das hat mächtig gekracht in den Synapsen. In dieser Phase ist das allerdings klassifiziert als „For My Eyes Only!“. Ich habe es deswegen etwas verfremdet. Es schaut nun aus wie eine Galaxie. Soll es auch.

Ich habe letzthin gelesen, dass es Anzeichen geben soll, dass unser Universum so ähnlich wie ein Gehirn funktioniert. Nun, zumindest haben wir in unseren Gehirnen so viele Neuronen wie es Sterne in der Milchstrasse hat. Wenn man anfängt, die Verbindungsmöglichkeiten zu rechnen, dann ist das 1000-Türenproblem geradezu ein stümperhafter Vergleich.

 

Tom Zai Verfasst von:

Tom Zai ist Autor, Verleger, Lehrer, Moderator, Musiker und noch vieles mehr.