Die Ersten werden die Letzten sein – oder: jeder ist selbst der Nächste!
Etwas Unschweizerischeres als Anstehen gibt es vermutlich nicht. Es lässt sich zwar nicht vermeiden, das Anstehen, aber es gibt viele Tricks, es abzukürzen.
Die Autobahn wird einspurig, was schon lange angezeigt wird. Bünzlis, wie ich, reihen sich möglichst früh auf der richtigen Spur in die Kolonne, also mindestens 500 Meter vor der Verengung. Bis man da endlich angekommen ist, brausen sicher 500 Wagen an dir vorbei, die im letztmöglichen Moment reindrücken. Was dir am Schluss bleibt, ist, dich als moralischer Sieger zu fühlen. Kümmert es die Drängler? Nee! Schweizer drängeln nicht. Schweizer sind nur nicht so blöd, sich hinten anzustellen, wenn es sich vermeiden lässt.
Das kennt man auch von der Kasse im Tankstellenshop oder im örtlichen Discounter, wenn sich die Zahlungswilligen stauen. Genau dann, wenn du langsam Morgenluft witterst – also berechtigterweise darauf hoffst, bald der Erste zu sein – wird die Kasse nebenan endlich geöffnet. Reaktionsschnell überspurten die eben Angekommen „das Feld“ und rollen es von hinten auf. Du siehst Leute den Laden verlassen, die du schon hast hereinkommen sehen, als du längst am Anstehen warst.
Das ist die Schweiz! Es gibt kaum eine patriotischere Handlung, als lästiges Anstehen zu umgehen.
Auf die Spitze getrieben wird das überall dort, wo eine Kanalisierung der Leute gänzlich vermieden wird: An Getränkeständen vor Event Halls, an Kaffee- und Cüplibars bei Konferenzen, Konzerten und Theater, am Kiosk im Strandbad.
Was, so frage ich mich, spricht eigentlich dagegen, es den Briten nachzumachen?
Anstehen bei Tesco zum Beispiel: Lange vor den Kassen stellst du dich in die Reihe. Eine Stimme ruft die freie Kasse auf. Nie kommen Zweifel auf, wer eigentlich als nächstes dran kommt.
Nicht wie bei uns, wo man (sich) selbst auch dann der Nächste ist, wenn man eigentlich der Letzte sein müsste. Aber das kennt man ja schon von der Bibel. Vielleicht ist das der Grund, weshalb die Schweizer das Angelsächsische System ablehnen: es ist nicht nur unschweizerisch sondern auch unchristlich.
Die Letzten werden die Ersten sein.
Lasset uns beten!
Warteschlange beim Eiffelturm
By Lars Blomeyer – Nanuk14 [Public domain], via Wikimedia Commons