Gümmeler

Es gibt Dinge, die sind einfach nicht kompatibel. Mir fallen tonnenweise Stereotypen ein, die in diesem Zusammenhang genannt werden können – allesamt haben Fettnäpfchenpotenzial. Güzin Kar schrieb kürzlich auf Twitter, Humor müsse schmerzhaft sein, dürfe nie anbiedern. Zumindest glaube ich, das sinngemäss so gelesen zu haben. Ich finde den Tweet nicht mehr. Falls ich mich geirrt haben sollte, liebe Güzin Kar, tut es mir leid.

Hier also einige nicht kompatible Stereotypenpärchen – die Liste kann beliebig erweitert werden: Franzosen und Pünktlichkeit, Männer und Humor (wieder frei nach Güzin Kar), Fussballspieler und aussagekräftige Interviews, Theorie und Praxis, Mantafahrer und ein GA der SBB, Roger Schawinski und eine Schweigeminute.

 

Damit komme ich zum eigentlichen Kernthema meines Blogbeitrags, der Inkompatibilität schlechthin: Was absolut nie, unter gar keinen Umständen zusammengeht ist ein Radweg und ein Rennvelofahrer. Der typische Rennvelofahrer, im Volksmund auch „Gümmeler“ genannt, scheut den Radweg wie der Teufel das Weihwasser. Man fragt sich, ob dieser Typ Mensch ein tiefes Misstrauen gegen Velowege hegt, weil dieser Fahrstreifen womöglich seinem Hightechgefährt Schaden zufügt. Es gibt tausend andere Gründe, die mir durch den Kopf gehen, die erklären könnten, wieso Gümmeler aus Prinzip nicht auf dem Radweg sondern auf der parallel dazu geführten Landstrasse pedalen. Die folgenden Gedanken sind hilflose und unbedarfte Erklärungsverusche:

 

Der Gümmeler setzt sich lange vor seiner Tour ein Tagesziel. Er plant ohnehin nicht nur seine Ausfahrten bis ins kleinste Detail, sein ganzes Leben ist durchorganisiert, vom Reifendruck bis zur Salatbeilage. Der Gümmeler kann ein geselliger Mensch sein, er kann sogar ein flexibler, humorvoller, kooperativer Zeitgenosse sein, wenn er das denn sein will (vermutlich eher in Ausnahmesituationen die Improvisationstalent erfordern, das nicht allen Gümmeler attestiert werden kann).

Sitzt dieser Typus Mensch allerdings einmal (fest) im Sattel, macht er nur noch eines: er spult, beziehungsweise strampelt, seine minutiös geplante Route ab. Rennvelolenker ermöglichen, ja fordern geradezu, eine gebeugte Haltung. Nur Ausnahmetalente schaffen es, länger als 30 Sekunden den Horizont zu betrachten. Ansonsten fokussiert der Gümmeler auf geschätzte 5 bis 8.5 Meter vor seinem Vorderreifen. Beim für Fahrradfahrerverhältnisse horrenden Tempo von 30 bis 45 Stundenkilometern ist das Fokussieren auf den Teerbelag natürlich nicht ganz einfach. So betrachtet, müsste man vielleicht eher von einem (männlichen) Tunnelblick sprechen, in dessen  drei bis vier Quadratmeter grossen Fokus die Strasse vorüberzieht.

 

A propos Tempo, der Gümmeler spürt seine eigene Geschwindigkeit, als ob er selber nie in einem Auto gefahren wäre. Das monotone Vorbeisausen der verschiedenfarbigen Teerbeläge versetzt ihn in einen Trance ähnlichen Zustand, in dem er glaubt, das Velo sei die eigentliche natürliche Fortbewegungsart des Menschen, die archetypische Weise sich von A nach B zu bewegen, auf hauchdünnen Gummireifen eben etwas effizienter als die Kollegen aus der Steinzeit, die noch wie Globi auf Steinrädern unterwegs gewesen sein mussten.

In diesem glückseligen Zustand, der ihn vergessen lässt, dass auch er kürzlich einmal Mitglied einer sich schneller als 45 Stundenkilometer bewegenden Gesellschaft war, will sich der Gümmeler unter keinen Umständen aufhalten lassen. Er strebt vorwärts, auch hier dem Archetypus des vermeintlich Innovativen folgend.

 

Warum also fährt der ambitionierte Rennvelofahrer auf der Strasse und nicht auf dem mit öffentlichen Geldern, gegen den Protest der um ihren Grund und Boden betrogenen Anwohnern, liebevoll gestalteten, nachts beleuchteten Radweg? Hmmmm?

 

90 Prozent der Gümmeler nehmen ihn gar nicht erst wahr, den Veloweg. Der Tunnelblick, die Drei-bis-vier-Quadratmeter-Regel, wie gesagt, erklärt das. Falls der Radweg doch wahrgenommen wird – was an sich kaum zu vermeiden wäre – verhindert das Programm des Gümmelers das Einschwenken auf den für Velofahrer vorgesehen Streifen. Das Credo des Gümmelers heisst: Niemals, niemals, niemals, unter überhaupt gar keinen noch so offensichtlichen Umständen darfst du aus dem Tritt geraten. Aus dem Tritt geraten heisst, du hast dein Leben nicht mehr im Griff. Und alles bricht zusammen. Du machst dir Gedanken über deine Frau, deine Kinder, deine Chefin, deine Eltern und ZACK, haut es dich aus der Spur.

 

Gümmeler sind auch nur Menschen – langsame Menschen zwar, Menschen, die ein zügiges, verantwortungsbewusstes Vorbeifahren mit dem Auto in aller Regel verhindern, gebetsmühlenartig vor sich hinstrampelnd diesem Credo der selbstauferlegten, aber immer nach vorne gerichteten Blickseinengung folgend fit bleiben wollen, sich weiterentwickeln, zumindest vorwärtskommen auf der Strasse, im Leben an sich.

 

Darauf sollten Autofahrer Rücksicht nehmen, finde ich. Und dies ist meine eigentliche Botschaft: Egal wie lange die Autokolonne hinter einem Gümmeler ist, man muss den Mann – und es handelt sich in 99 Prozent der Fälle um einen Mann – in seinem Bestreben vorwärtszukommen, sich selber weiterzuentwickeln, gegen den Alltagstrott anzustrampeln, sein Leben auf den paar Quadratmeter in seinem Sichtfeld zusammenzuhalten, verstehen.

Das bedeutet für den verständigen Autofahrer konkret: hinter dem Gümmeler warten, nicht hupen, dann, wenn sich die Gelegenheit endlich bietet in respektvollem Abstand überholen, auf beleidigende Gesten verzichten, noch nicht mal mit dem Finger auf den schnurgeraden Veloweg deuten (er, der Gümmeler, würde es ohnehin nicht sehen). Ich betrachte dieses Verhalten eines Autofahrers mittlerweile als Gebot reiner Nächstenliebe.

 

Davon ausgeschlossen sind selbstverständlich Gümmeler, die ausnahmsweise im Auto unterwegs sind. Die haben dann, immer noch ihrem Credo gemäss, natürlich auch in diesem Fall das Gewaltmonopol auf der Strasse.

 

radstreifen

Bildquelle: http://www.zukunft-mobilitaet.net/8441/verkehrspolitik/radverkehr-in-den-usa-radnutzung/attachment/usa-radweg-creative-commons/

 

Tom Zai Verfasst von:

Tom Zai ist Autor, Verleger, Lehrer, Moderator, Musiker und noch vieles mehr.