Damit sind wir hoffentlich mitten im Buch „Grünschnabel“ angekommen. Es ist das perfekte Buch für alle, die Anfangs 70er Jahre Kinder waren. Wache Kinder allerdings, die Augen und Ohren und vor allem auch die Nasen aufgesperrt haben.
Erinnern Sie sich noch an die scheusslichen, gelben Regenhüte mit der Aufschrift „Figugegl“? Das wird heute gnadenlos auf Raclette adaptiert, aber kann einfach nicht konkurrieren mit diesen gelben Hüten, mit den breiten, faltbaren Krempen und den immer nassen, miefenden, am Kinn klebenden Stoffbändeln. Ich sehe mich als Erstklässler allein, auf meinem Schulweg, auf der rechten Seite der Bahnhofstrasse, 30m unterhalb des Friedhofs, da, wo das schönste öffentliche WC stand (zumindest von aussen) unter den Kastanienbäumen bei strömendem Regen mit diesem Figugelhut auf dem Kopf – testen ob sie wirklich wasserdicht sind. Die Hüte rochen nach – ja? – Luftmatratze oder Gummibötchen, genauso wie die dazugehörigen gelben Mäntel mit blauem Innenfutter. (Grünschnabel S.182)
Wenn Sie älter als wir sind (damit meine ich die Mitte der 60er Jahre Geborenen), können Sie sich vermutlich auch erinnern, aber nicht mit der Intensität und Ungetrübtheit eines Kindes. Wenn Sie jünger sind – na ja – finden Sie sich ab mit den vielen Remakes aus dieser Zeit.
Doch zumindest Dominik Dachs und die Katzenpiraten wird im Original nun wieder ausgestrahlt – allerdings nur in 5-Minuten-Häppchen. Werden die Sechsjährigen heute noch Angst haben vor dem Roten Tom? Ich hoffe doch. Oder wären die Eltern glücklicher, wenn den Kleinen „The Pirates of the Carribean“ gezeigt würde?
Anfangs der 70er, ja da war die Welt noch heil. Da wurde noch abends um halb Sechs der „z’Nacht“ gegessen. Im Winter konnte man zwischen drei Sorten Salat wählen (Randen, Chicorée, Endivien und Zuckerhut). O.k. Vier, wenn wir „Rüebli“ und Sellerie nicht mitzählen.
Da wurde ein Fernseher extra für die Mondlandung gekauft, um dann doch vor allem Muhamed Ali gegen Joe Frazier zu schauen – nachts um drei Uhr. Und wie gross war die Enttäuschung als Ali – vormals Cassious Clay – ausgerechnet dann verloren hatte.
Und dann, zum ersten Mal das Meer sehen oder Spaghetti essen, richtige Spaghetti mit Tomatensauce. Die Probleme mit der Gabel, die Mutter löste, indem die Spaghetti flugs mit dem Messer so zerkleinert wurden, dass selbst Kinder nach einer Mandeloperation, diese problemlos hätten essen können.
Und überhaupt, damals waren Italiener noch die schwarzen Schafe, obschon die wirklichen Schwarzen noch Neger hiessen und mit dem Kopf nickten, wenn man ein Fünferli in ihren Kopf schob.
Monica Cantieni ist eine Zeitzeugin, die damals (1970-71) das richtige Alter hatte. Reisen sie mit ihr in die Vergangenheit. Schauen Sie sich die Welt mit Kinderaugen an. Sie entführt uns in Ihrem Roman Grünschnabel in eine Zeit des Umbruchs, der Unsicherheit, der Enttäuschungen und der Chancen.
Grünschnabel bekommt ihren Namen vom Tat. Das ist ihr Grossvater aus dem Bündnerland, dem im Laufe des Buches immer mehr Erinnerungen abhanden kommen. Diese sucht er dann im Keller oder an anderen Orten.
Grünschnabel hat es selber nicht so mit den Begriffen, die ihr fehlen und die sie fast besessen in Streichholzschachteln, thematisch geordnet, sammelt. Sie ist in einem Heim aufgewachsen, wo nicht viel wert auf Sprache gelegt worden ist und wie sie sagt, hat ihr Vater sie für 365.-Fr. von der Stadt gekauft. Der Roman beginnt mit dieser Aussage Grünschnabels – ein unvergleichlicher Einstieg ins Buch!
Ihr Vater ist impulsiv und kocht fantastische Schnitzel. Ihre Mutter hat oft das „Himmelelend“, liegt flach und schluckt Pillen – das erinnert schon an einen gewissen Stones Song, nicht? Sie wohnen in einem Mehrfamilienhaus mit vielen schillernden, liebenswürdigen Gestalten aus den verschiedensten Kulturkreisen. Ein Kaninchen ist auch dabei. Es wohnt im Garten und bewacht die Post für einen, den man heute als „Sans papier“ bezeichnen würde oder als „Illegalen“.
Zwischendurch gibt es Besuch von der Vormundschaftsbehörde, denn es ist noch nicht sicher, ob Grünschnabel bleiben darf.
Monica Cantieni beleuchtet viele Themen aus Sicht eines etwas sechsjährigen Mädchens. Wie sie mir an einer Lesung erzählte, bedeutete diese Erzählperspektive ziemliche Knochenarbeit. Die Themen reichen von Banalitäten des täglichen Lebens bis hin zu den ganz grossen Gesellschaftsthemen. Ich möchte hier eine kleine Auswahl präsentieren:
Da sind viele Kindheitserinnerungen an Goldfarbstifte, Gehacktes mit Hörnli und Apfelmus, eben die Gelben Regenmäntel, Old Shatterhand, Gerüche wie Haarlack und Kölnisch Wasser, die Höhensonne, Schulaufsätze nach den Ferien über die Ferien oder dass die Wurst nur für den Vater oder den Grossvater reichte.
Dann sind da vor allem gesellschaftskritische Themen zu finden über die „Parterreschweizer“, die Überfremdungsinitiative von James Schwarzenbach, das Frauenstimmrecht oder auch die „Fröntler“ (Schweizer, die im Krieg heimlich Gauleiter „spielten“) und die Flüchtlingspolitik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg.
Schliesslich schreibt Monica Canieni auch ein Buch über das Altwerden und über den Tod. Dieses Thema nämlich – der Tod – ist überhaupt der Grund, weswegen Monica Cantieni das Buch zu schreiben begann. Den Verlust eines Menschen zu verstehen, zu begreifen, den Tod zu erklären, zu beschreiben, wie der Tod aussieht dies bleibt in der Geschichte dem Vater, vorbehalten – auf Seite 104. Man muss es einfach gelesen haben!
Dieser Meinung sind viele andere Leute. Monica Cantieni war 2011 für den Schweizer Buchpreis nominiert. Ich frage mich aber, wie weit das Buch ausserhalb der Schweiz in seiner ganzen Tiefe verstanden werden kann. Doch das ist vermutlich nur mein etwas überheblicher Wunsch, Grünschnabel für mich und meine eigenen Kindheitserinnerungen zu beanspruchen.
Monica Cantieni
Grünschnabel, Roman
Schöffling & Co.
240 Seiten. Gebunden
ISBN: 978-3-89561-345-6