Gothic – Vorpremière

Gestern Sonntag meine erste Film-Vorpremiére überhaupt. Ich berichte hier unter der Rubrik „Philosophisches“ und das hat seinen Grund.

 

Mitra Devis Film, den sie mit ihrer Partnerin und Kamerafrau Bea Huwiler realisiert hat, ist ein Film über Menschen, die sich auf die eine oder andere Art ganz dem Lebensstil „Gothic“ verschrieben haben.

 

Bevor ich mich hier verquassle, lasse ich den Film für sich sprechen:

 

 

Auch den Inhalt hat Mitra Devi auf ihrer Homepage bereits so gekonnt zusammengefasst, dass ich selber darauf verzichte.

 

Die Première fand im Arthouse-Kino Le Paris, Zürich-Stadelhofen, statt. Das äusserst illustere Fachpublikum zeichnete sich nicht hauptsächlich durch cineastisches Know-How sondern durch Fachkenntnis der Materie „Gothic“ aus. Am lautesten lachte es, wenn Passanten im Film sich darüber wunderten, wie man mit diesen „Bostitch-Klammern“

a) sich waschen

b) arbeiten

c) Sex haben kann.

 

„Gothic“ ist für mich ein ungeheuer emotionaler und philosophischer Film. Mein Eindruck ist, dass die Menschen, die im Film porträtiert werden, sich auf eine ganz persönliche und schonungslos ehrlich Art Abgründen unserer Existenz stellen, die wir nur zu geflissentlich übersehen. Es geht um die Endlichkeit des Lebens und die Konsequenzen aufs Jetzt.

 

Man würde sich geradezu wünschen, man könnte die Leute aus der Gothic-Szene einfach so hopp-zack in eine Schublade packen und verschliessen – im Kino, auf der Grossleinwand, geht das ohnehin nicht -, denn man fängt selber an, sich unbequeme Fragen zu stellen.

 

Die Präsenz der Protagonisten ist unglaublich. Ihr Blick und ihre Worte sind geprägt von Offenheit und Ernsthaftigkeit. Ja, Ernsthaftigkeit und geradezu Akribie prägen das Schaffen der Protas (auch jenes der Filmemacherinnen). Was sie sagen hat immer Tiefgang und Würde und drückt für mich aus, was sich schon in ihrer Kleidung manifestiert: ein sorgfältig durchgedachtes Konzept, der Welt und ihren Menschen, sich selber mit eingeschlossen, zu begegnen.

Ich glaube, es hat viel mit Reflektieren zu tun. Dabei entstehen Musik, Literatur, Fotos, Bilder, Tanz und Inszenierung und vieles mehr. Es ist schon erstaunlich, wie nahe sich in dieser Szene Introvertiertheit mit Expressivität kommen. Das Innen und das Aussen scheinen sich die Hand zu reichen. Mich wundert es nicht, dass abgesehen von den vielen Goths (ein teilweise umstrittener Begriff) im Premièrenpublikum  die Dichte an Schreibenden hoch war (das hängt natürlich auch mit Mitra Devis eigener Schriftstellerei zusammen).

 

Ich bin tief beeindruckt, wie die Protagonisten und, ich nehme an, viele andere Anhänger der Gothic-Szene sich auf eine friedfertige, selbstbewusste Art zu ihrer Lebenshaltung bekennen und diese leben. Offenbar wird das zum Teil als Provokation empfunden. Doch genauso wenig wie eine Nonne im Supermarkt provozieren will, ein Gartenzwerg in der Vorstadt, ein Älpler auf dem Weg zum Schwingfest, so wenig geht es Gothics um eine Demonstration gegen etwas. Sie stehen, so wie ich den Film verstanden habe, vor allem für etwas.

 

Für mich hat „Gothic“ deswegen vor allem Pathos im besten Sinn ohne je pathetisch – im schlechten Sinn – zu wirken. Und genau deswegen berührt er mich so. Ich bin genau im richtigen Alter, um mir nochmal die Fragen zu stellen, die ich mir als junger Erwachsener versucht hatte zu beantworten. Für mich ist es die Suche nach Reinheit und Perfektion, ohne puritanisch zu sein, ein Streben nach Tiefe und Echtheit, im Wissen, nie ganz ans Ziel zu kommen.

 

Wie ich sagte, ein Film von unglaublich philosophischer Tiefe. Dass diese Tiefe ausgerechnet aus jener „Ecke“ kommt, die von vielen zwischen Fasnacht und Satanismus angesiedelt wird, macht die Dokumentation zu einem echten Aufklärungsfilm. Ich finde er hat etwas unglaublich Befreiendes. Deswegen wird ganz am Ende des Films – nach all der Ernsthafigkeit – auch bei den Protagonistinnen und Protagonisten herzhaft gelacht.

 

Ich bin begeistert, vom Inhalt, der Machart, dem Spiel mit Nähe und Distanz, den Protas, der Musik, den Farben (wo das Schwarz-Weiss am kräftigsten ist, scheinen die Farben am hellsten – um ein Zitat aus dem Film abzuwandeln), dem Film an sich. Ich wünsche ihm ein möglichst grosses, aufgeschlossenes Publikum.

 

Mitra Devi und Bea Huwiler, grosse Leistung, Chapeau (natürlich ist’s ein Zylinder mit Fliegerbrille)!

 gothic

Foto: Mitra Devi, Bea Huwiler gothic.mitradevi.ch/

 

 

Tom Zai Verfasst von:

Tom Zai ist Autor, Verleger, Lehrer, Moderator, Musiker und noch vieles mehr.