Fussmatte

„Weihnachten steht vor der Tür“, sagt meine Frau.

Ich sehe nach. Da ist niemand und nichts. Auch kein Weihnachten. Da ist nur die gewohnte Landschaft. Das Bild, das ich mir von „draussen vor der Tür“ gemacht habe. Jahreszeit gemäss karg.

Vor meiner Tür – also direkt davor – gibt es eine Fussmatte. Es ist keine Kokosmatte mit Hundemotiv, weil wir keinen Hund haben. Es ist überhaupt keine aus Kokos, weil wir generell nichts mit Kokos und Palmen am Hut haben. Es ist eine Fussmatte aus Alulamellen mit Kunststoffbelag und Rillen, zwischen denen der Dreck herunterfallen kann, den wir nicht im Haus haben wollen.

Dennoch steht Weihnachten irgendwie rum, spüre ich. Man muss ihm wohlgesinnt sein, dann wird es sich schon manifestieren. (Leider haben die Sozis den Begriff „Manifest“ schon für sich beansprucht. Da Weihnachten eh nicht viel mit Sozialismus gemein hat, ist nur das Fest übriggeblieben. Ganz ohne das Mani.)

Man soll die Feste feiern, wie sie fallen, fällt mir weiter ein. Ein Spruch, den ich immer brutal gefunden habe. All die gefallenen Feste. Besonders an Weihnachten muss ich dabei an Engel (oder auch Frauen) denken, die gefallen sind. Luzifer sei Dank wissen wir, dass Engel nicht wie andere flugfähige Wesen patsch auf der Erde aufschlagen, sondern glatt durchgehen und dann ganz tief tief fallen und sich in der Hölle wiederfinden oder der Vorhölle, was ich meinen Kindern immer als überheiztes Wartezimmer beschrieben habe, um ihnen die Freude am katholischen Glauben nicht schon im Kindesalter zu vermiesen.

Irgendetwas muss ich dabei falsch gemacht haben. Je nach Standpunkt. Meiner ist es nicht.

Zurück zur Fussmatte und dem Dreck, der draussen bleibt, weil er durch die Rillen fällt: Auf diese nervtötend intellektuelle Art fange ich mich an zu fragen, ob das eine grössere Bedeutung haben könnte. Metaphern wie „der Bodensatz der Gesellschaft“ fallen mir ein und ganz allgemein muss ich an die Flüchtlingsproblematik denken. Kein Wunder. Als Kinder wurde uns dieser Flüchtlingsreflex rund um die Herbergssuche regelrecht eingeimpft. Kein Weihnachtsspiel ohne Flüchtlingsdrama.

Rund um diese Menschenzählerei, der Volkszählung, und das muss ich nun hier wirklich mal loswerden, offenbarten sich mir als Knirps einige pragmatische Erkenntnisse, die mich noch heute verfolgen. Damals erschloss sich mir ganz automatisch, dass Kaiser Augustus der Vater aller Bürokraten gewesen sein muss. Jeder vernünftige Staatsangestellte, jede Verwaltungsangestellte, der oder die an ihrem Job hängt, sollte bei sich im Büro eine Augustusstatue haben und diese verehren. Heiliger Erbsenzähler, bitte für uns!

Doch eigentlich geht es um die Sache mit den Hotels. Kinder, die vor oder um den Pillenknick herum geboren wurden, hatten ganz einfach kaum oder gar keine Hotelerfahrungen gemacht. Es sei denn sie wuchsen bei reichen Leuten auf. Aber, selbst wenn, allen war damals klar: Arme Leute übernachten eh nicht in Hotels. Und was sind Herbergen, selbst wenn sie im fernen Israel stationiert sind, anderes als Hotels?

Als durchschnittlich intelligenter und umso pragmatisch denkender Knirps verstand ich nicht, warum Maria und Joseph überhaupt versucht haben, im Hotel zu nächtigen. Später – obwohl ich nie in Israel oder den Palästinensergebieten gewesen war – ergaben sich weitere Fragen die tatsächlichen Witterungsbedingungen betreffend.

Ich kann mich haargenau an mein Kostüm erinnern, das ich seinerzeit beim Krippenspiel trug. Natürlich wäre ich am liebsten Maria gewesen, die Hauptfigur, aber dafür waren die 70er-Jahre noch nicht reif. Joseph war auch schon besetzt und aus meiner Sicht nicht wirklich eine Option. Joseph war irgendwie der Depp im ganzen System. Heute würde man ihn als Loser bezeichnen. Ich hätte ihm gewünscht, dass er wenigstens reinen Wein betreffend Vaterschaft– zu Wein-achten, das ich damals logischerweise ohne H schrieb – eingeschenkt bekommen hätte. Doch noch nicht mal echten Wein hatte man ihm gebracht. Aber ein Schulkamerad, dem das nichts ausmachte, übernahm den Joseph und ich musste wie die anderen Überiggebliebenen entweder ein Schaf, einen Hirten oder einen Baum spielen. Ich war dann ein Hirte und besuchte deswegen meine Grossmutter, die noch uralte Stoffpelerinen im Schrank hatte. Und Fellmützen. Und Handschuhe. Und einen rechten Stecken. Der Stecken, muss ich zugeben, spielt keine Rolle bei dem, worauf ich hinauswill.

Israel hat im Dezember eine Durchschnittstemperatur von 17.1 Grad und einen Tiefstwert von 11.4 Grad. Der See Genezareth ist 22 Grad warm und damit badefreundlicher als der Walensee bei uns im August. Aber wie haben wir das beim Krippenspiel dargestellt? Frierende Leute überall, je ärmer je frierender. Bei der Hirtenszene habe ich mir eine spärlich bewachsene, riesige Grasebene voller Raureif mit hunderten von brennenden Feuern, an denen sich die Hirten zusammendrängten, vorgestellt. Die Engel kamen aus einem eisigen Himmel der klarsten Polarnacht, hinter der ein furchtbarer Schneestrum lauerte. Nach der frohen Botschaft brachten die Hirten dem armen Jesulein unter grösster Entbehrung Textilien und Felle, damit es nicht sofort erfrieren musste. Und immer hatte es unter den Hirten einen besonders kleinen und armen Hirtenjungen, der dem Gottessohn ein spezielles Geschenk machte. Bevor dann die Heiligen Drei Könige kamen und mit ihrem Luxus die ganze Stimmung kaputt machten.

Ob ich die Haustür dann auch mal wieder zumachen könne, fragt meine Frau mit diesem Unterton, der einen ganzen Fragenkatalog zu meinem geistigen und körperlichen Zustand andeutet. Vielleicht aber hat sie einfach kalte Füsse, weil die Winterluft von der Physik gezwungen wird, über den Boden zu streichen. Gerne hätte ich noch darüber nachgedacht, warum die Engel ihre Botschaften jeweils mit dem Satz, „Fürchtet euch nicht!“, begannen. Doch ich lasse nochmal meinen Blick vom Dreck zwischen den Lamellen der Fussmatte über die Umgebung schweifen und schliesse gehorsam die Tür. Dann weise ich meine Frau auf ihren Fehler hin.

„Du hast dich getäuscht, Schatz“, sage ich ihr wie der letzte Anfänger. Sie holt bereits Luft und ich sehe ihr an: Das wird ein langer, argumentreicher Abend werden.

„Okay, okay!“, winke ich mit erhobenen Händen ab und kapituliere in vorauseilender Einsicht. „Ich kann ja später nochmal nachschauen.“

 

 

Tom Zai Verfasst von:

Tom Zai ist Autor, Verleger, Lehrer, Moderator, Musiker und noch vieles mehr.