Fussmatte – immer wieder Zainachten

«Weihnachten steht vor der Tür», sagt meine Frau.

Ich sehe nach. Da ist nichts und niemand. Auch kein Weihnachten. Nur das Bild, das ich mir von «draussen vor der Tür» gemacht habe, der Jahreszeit entsprechend karg. Vor unserer Tür, also direkt davor, gibt es eine Fussmatte. Eine aus Alulamellen, zwischen denen alles herunterfallen soll, was wir nicht im Haus haben wollen.

Auf diese nervtötend intellektuelle Art, die mich oft selber zum Wahnsinn treibt, muss ich zwangsläufig an die Migrationsthematik denken, die zwar viel mit Weihnachten zu tun hat, stimmungsmässig aber voll der Abturner ist.

Als Kinder wurde uns ja der Flüchtlingsreflex rund um die Herbergssuche regelrecht eingetrichtert. Kein Krippenspiel ohne Flüchtlingsdrama, das damals noch verklärte Nachkriegsnostalgie war, und ein Schweizer Kind sozusagen rückwirkend mit humanitärem Stolz erfüllte. Aber die Sache mit den Hotels machte das schnell kaputt. Was sind Herbergen anderes als Hotels? Und Hotels, so wussten wir Kinder, sind unerreichbar teuer.

Als Knirps verstand ich nicht, warum Maria und Joseph überhaupt versucht hatten, in Hotels zu nächtigen. Zumal die alle hoffnungslos überbucht waren. Ein Strohlager im kuscheligen Ein-Sterne-Stall präsentierte sich als geradezu paradiesische Alternative, zumal der Stern sogar einen Schweif hatte. Und wo, bitte schön, wären die im Hotel mit all den Hirten und Königen hin?

Na ja. Für die Könige hätten die Bodyguards Platz geschaffen, hätten böse geguckt und ruck-zuck ganze Etagen entvölkert. Aber die Könige waren anscheinend solo unterwegs. Also im Trio. Drei Könige. Auf drei Kamelen. In einer Dreierkarawane. Wer’s glaubt! Könige sind nie alleine unterwegs. Schon gar nicht in Gruppen. Könige schicken Truppen.

Aber eigentlich waren das ja Schriftgelehrte. Greise Weise, aber irgendwie doch Könige, wovon einer mit schwarzer Hautfarbe – ich kann mir nie merken welcher – die afrikanischen Kolonien repräsentierend. In ihren Studierzimmern, oder meinetwegen Studierzelten, hatten sie Schriften studiert und studiert und dann ihre Forschungsergebnisse per Kamelkurier untereinander ausgetauscht und diskutiert, ihre gewagten Schlüsse gezogen, die zu weiteren bahnbrechenden Erkenntnissen führten und die damalige Astrophysik revolutionierten, indem sie zur Entdeckung eines in Bodennähe schwebenden Kometen mit integriertem GPS führten.

Wo haben die Könige am Ende gepennt, frage ich mich. In der Luxus Suite vom Bethlehem Holiday Inn? Oder wie Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah in der Wüste am Rücken eines Kamels? Oder doch im Kuhstall? Ich hab nie verstanden, warum der vorne offen war. Das zieht doch rein.

Und keine Privatsphäre bei der Geburt, über die nichts bekannt ist. Hätte der dramatische Höhepunkt von der Geschichte sein können. Aber niemand rief nach sauberen Tüchern und heissem Wasser, wie man das im ersten Semester Dramaturgie so lernt. Keine Erstgebärende, die schrie und schrie und schrie, bis jemand mit Sachverstand hinzutrat und sagte: «Pressen!» Kein Vater, der dann auch mal ins Bild durfte, ohne zu rauchen oder zu kotzen oder bewusstlos zu werden. Der Kraft seines Amtes die Nabelschnur durchtrennte. Nein dieser Vater fehlte ja total. Aus Gründen.

Und so lag dann einfach plötzlich dieses Kind in der Futterkrippe, weil man so ein Neugeborenes ja sofort irgendwo hinlegen musste. Fragen über Fragen tun sich auf, die allesamt die Glaubwürdigkeit der Geschichte unterwandern. Ich sag nur: sprechende Tiere. Denkt man doch gleich an die Bremer Stadtmusikanten oder den Gestiefelten Kater, nicht?

Ich kann mich noch haargenau an mein Kostüm erinnern, das ich seinerzeit beim Krippenspiel trug. Natürlich wäre ich am liebsten Maria gewesen, aber dafür waren die 70er-Jahre nicht reif. Und wer von uns Jungs wollte den armen Mädchen die Maria streitig machen? In der ganzen Story ist weibliches Personal ja geradezu weggespart worden. Da mussten regieführende Pädagoginnen ziemlich progressiv sein, um Rollen für Mädchen zu erfinden.

Joseph war auch schon besetzt und aus meiner Sicht nicht wirklich eine Option. Er war irgendwie der Depp im System. Ich hätte ihm gewünscht, dass man ihm wenigstens betreffend Vaterschaft reinen Wein eingeschenkt hätte. Ein Schulkamerad, dem das nichts ausmachte, übernahm den Joseph und ich musste wie die anderen Überzähligen entweder den Esel oder den Ochsen, ein Schaf, einen Hirten oder einen Baum spielen. Ich war am Ende ein Hirte und besuchte deswegen meine Nana, die noch uralte Stoffpelerinen im Schrank hatte. Und Fellmützen. Und wollene Handschuhe.

Bethlehem, so habe ich letzthin nachgelesen, hat im Dezember eine durchschnittliche Tageshöchsttemperatur von 15 Grad und einen Tiefstwert von 6 Grad in der Nacht. Der See Genezareth ist um die 16 Grad warm und somit badefreundlicher als der Walensee im Juni. Aber wie haben wir das beim Krippenspiel inszeniert? Frierende Leute überall. Je ärmer desto frierender. Bei der Hirtenszene stellte ich mir als Kind eine spärlich bewachsene, riesige Grasebene voller Raureif mit hunderten brennender Feuer, an denen sich die Hirten zusammendrängten, vor. Woher die das viele Holz hatten? Die Engel kamen aus einem eisigen Himmel der klarsten Polarnacht, hinter der ein furchtbarer Schneesturm lauerte. Nachdem die Engel die frohe Botschaft endlich hatten ausplaudern dürfen, brachten die Hirten dem armen Jesulein unter grösster Entbehrung Textilien und Felle, damit es nicht sofort erfrieren musste, weil, wie gesagt, die Stallfront fehlte. Und immer hatte es unter den Hirten einen besonders kleinen und armen Hirtenjungen, der dem Kind ein spezielles Geschenk machte. Bevor dann die Heiligen Drei Könige kamen und mit ihrem Luxus die ganze Stimmung kaputt machten.

Ob ich die Haustür dann auch mal wieder zumachen könne, fragt meine Frau mit diesem Unterton, der einen ganzen Fragenkatalog zu meinem geistigen und körperlichen Zustand andeutet.

Gerne hätte ich noch darüber nachgedacht, warum die Engel ihre Botschaft jeweils mit dem Satz, «Fürchtet euch nicht!», begannen, oder welchen gemeinsamen Nenner Aschenputtel, Sissi, der Kleine Lord, Stirb langsam mit der eigentlichen Weihnachtsgeschichte hatten. Sicher wäre mir noch mehr zu den Flüchtenden eingefallen, zu den Gründen, warum sie flüchten, zu ihren Erwartungen und den Risiken, die sie in Erwartung ihrer Erwartungen eingehen, um am Ende doch in ein Flugzeug gesetzt zu werden, das sie von Anfang an hätten nehmen wollen – halt einfach in die andere Richtung.

Ich lasse nochmal meinen Blick von der Fussmatte über die Umgebung schweifen und schliesse gehorsam die Tür. Dann weise ich meine Frau auf ihren Fehler hin. «Du hast dich getäuscht, Schatz», sage ich wie der letzte Anfänger. «Da steht nichts und niemand vor der Tür.» Sie holt bereits Luft und ich sehe ihr an: Das wird ein schwieriger Abend werden. «Okay, okay!», winke ich mit erhobenen Händen ab. «Ich kann ja später nochmal nachschauen.»

Tom Zai Verfasst von:

Tom Zai ist Autor, Verleger, Lehrer, Moderator, Musiker und noch vieles mehr.