Fördertöpfe

Offener Brief zu einer Diskussion auf Google+ von Karin Bachmann zum NZZ-Artikel „Arm, aber glücklich

 

 

Liebe Alice Gabathuler

 

Ich glaube, es ist dieses Gefühl von erkämpfter Unabhängigkeit, das du ausstrahlst, was mir am meisten imponiert. Dass du andere – zum Beispiel mich – daran teilhaben lässt, ist fantastisch. Was du über "Förder-Töpfe" schreibst, finde ich eindrücklich. Schreiben als neue Form des Beamtentums geht definitiv nicht, wenn man so tickt wie wir. Auf der anderen Seite ist gerade die gesammelte Fiktion der Menschheit ein unglaublicher Gewinn für die Gesellschaft.

Ich werde mich nächstens an einen Text über "Erinnerung" machen. Ich stelle fest, dass meine Erinnerung zurückreicht bis ca. 1900. Kein Scherz! In unserer Familie wurde oft und gern von "früher" erzählt. Ich habe zum Beispiel so oft mit Grossmutters Augen gesehen, wie nachts der Schnee durch den Spalt unterm Dach rieselt, mit ihr gefühlt wie die Decke am Gesicht festfriert, wie der Körper der Schwester warm gibt, dass es Teil meiner eigenen Erinnerung geworden ist.

 

Was will ich damit sagen?
Autorinnen und Autoren sind "Transmitter", Botschafterinnen zwischen den Welten, den Universen. Sie sind letztendlich Katalysatoren, die im Stande sind, gesellschaftliche Prozesse zu spiegeln, vorwegzunehmen oder entscheidend zu beeinflussen.

Wichtig ist wahrscheinlich vor allem das eigene Selbstverständnis. Nur allzu gerne möchte man uns auf die Rolle des Hofnarren reduzieren – einem von Almosen lebenden Selbstdarsteller, der jederzeit entlassen werden kann, wenn seine Schuldigkeit getan ist, der in erster Linie aber eine Verpflichtung dem Brotgeber gegenüber einzulösen hat, ihm womöglich nach dem Mund reden muss und froh sein soll, dass er nicht in der Gosse landet. Ähnliches erleben heute viele Berufsgruppen, wenn wertschöpfende Leistung oft nicht 1:1 in einer Zahl ausgedruckt werden kann. Ich denke da in erster Linie an Lehrerinnen und Lehrer, die image-mässig Gefahr laufen, wieder auf das Niveau der Hausangestellten zu geraten. Und genau wie ihnen bleibt …

 

uns Autorinnen und Autoren wohl vor allem die „Flucht“ nach vorn. Es gehört heute zu unseren Aufgaben, der Gesellschaft die Leistung, die wir erbringen, bewusst zu machen. Denn es ist eine Leistung und es ist vor allem eine Gesellschaft, die sich über Leistung definiert. Ausserdem reicht es, dass Leistung vermutet wird. Ansonsten wäre es nicht möglich, dass einzelne Leute gleich viel Geld in einem Jahr verdienen können, wie andere in 10’000 nicht. Unsere Geschichten sind ein Gewinn!

 

Was wird bleiben, wenn sie nicht mehr geschrieben werden? Dann wird es nur noch Werbespots geben – das Leben reduziert auf die Frage, welcher Kauf die entscheidende (glückliche) Wende herbeiführt. Wenn viele den Kauf eines Buches als eine solche sehen, dann gibt es Hoffnung für die schreibende Zunft.

 

Ganz sicher gibt es diese Hoffnung für mich, solange Powerfrauen wie du, Alice, so enthusiastisch und diszipliniert zugleich an und für ihre Texte schuften.

 

Liebe Grüsse

Tom

 

 

Teil 2 der Diskussion siehe hier!

Tom Zai Verfasst von:

Tom Zai ist Autor, Verleger, Lehrer, Moderator, Musiker und noch vieles mehr.