Der erste August ist bekanntlich der Schweizer Nationalfeiertag. Seit 1891, als die junge Schweiz den kleinsten gemeinsamen Nenner suchte und zu feiern gedachte. Ohne die Urner, wohlgemerkt, die das Gründungsjahr der Schweiz lieber auf 1307 datieren, als ihr Willi (nach Fritz Schiller) auf dem Rütli mit dabei war.
Frag zehn Leute, wann der Rütlischwur stattfand! Ich behaupte, mindestens acht liegen daneben. Aber ich sage das nur, um mich wichtig zu machen. Doch darum geht es mir gar nicht – weder darum, mich aufzuspielen, noch um die Gründung der Eidgenossenschaft an sich.
Mir geht es um einen Krieg, der, von der Öffentlichkeit unbemerkt, an einem ersten August, ca. 1972, in der Nähe von Bern stattfand. Auch hier gibt es gewisse Unsicherheiten, was die Jahreszahl betrifft. Es könnte sich auch ein Jahr früher oder später zugetragen haben. Ich spreche vom sogenannten Eintageskrieg zwischen der Schweiz und Korea. Fragt mich nicht ob Süd- oder Nord-.
Der erste August stellte sich für uns Kinder so dar: alle anderen hatten Feuerwerk, wir hatten eine gute Stimmung. Ich erinnere mich an Riesenfeuer am Rhein, so gross, dass Vater die halbe Nacht Wache schieben musste, weil Föhn aufgekommen war, an Bauernbuffets im Restaurant Ochsen, wo man für den Preis von zwei Feuerwerksraketen essen konnte, bis es einem zu den Ohren rauskam.
Einmal aber weilten wir in vorstädtischer Umgebung bei Tante und Onkel in der Nähe der Bundeshauptstadt. Ein, zwei Tage vor dem Nationalfeiertag kam Vater mit einer geheimnisvollen Plastiktasche, die sogleich auf einem Schrank in die Unerreichbarkeit weggestellt wurde, von der Stadt zurück.
Wir hatten die leise Hoffnung, dass dieses Jahr alles anders werden würde und sich für einmal die gute Stimmung mit Feuerwerk kombinieren liesse.
Der Nationalfeiertag wurde bei Freunden unserer Verwandten begangen. Ich nehme an, dass gegrillt worden war. Das gilt aber keineswegs als gesichert. Grillen als Nationalsport war damals noch nicht so verbreitet. Cervelats am Stock über dem Feuer, das schon. Auf Wanderungen.
Was ich sicher weiss, dass die Plastiktasche mit dabei war. Endlich war es dunkel genug. (Sommerzeit gab es noch nicht. Also musste man weniger lange warten.) In der Tasche waren tatsächlich die erhofften Rakten. Wir Kinder frohlockten. Leere Bier- oder Weinflaschen wurden bereitgestellt, um sie abzufeuern. Die Raketen. Nicht die Flaschen. Wir konnten es kaum erwarten, Feuer an die Lunte zu legen. Aber wir hatten die Rechnung ohne die Schweizer Armee gemacht. Leider.
Der Gastgeber war ein hohes Tier im Militärdepartement, EMD, so hiess es damals noch, Eidgenössisches Militärdepartement. Nicht VBS, Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport wie heute. (Ich muss ja immer an VHS denken. Vielleicht, weil mich die alten Videokassetten an Panzer erinnern. Keine Ahnung.) Er war auch ein hohes Tier im Militär selber, Kommandant einer Artilleriefestung, die bei Schönwetter in Eidgenössischer Regelmässigkeit schwere Geschosse über mein Heimatdorf pfefferte. Übungshalber.
An jenem ersten August war keine Übung sondern Ernstfall. Der Gastgeber, wie gesagt Patriot von Berufs wegen, hatte nämlich auch Raketen eingekauft. Solche aus Schweizer, also einheimischer, Produktion. Vater hatte auf die billigeren Koreaner gesetzt.
Es war ein Gemetzel, an dem wir bald einmal unseren Spass verloren. Immer zeitgleich zündeten die Männer je eine Rakete, nur um zu schauen, welche höher flog, schöner explodierte, lauter knallte.
Nachträglich kann ich ja verstehen, dass wir Kinder aus dem Scharmützel ferngehalten wurden. Wer will schon Kindersoldaten einsetzen? Dennoch überkommt mich etwas Wehmut, wenn ich mich auch noch im Nachhinein damit abfinden muss, wenigstens eine Schachtel Bengalische Zündhölzer im Kreis geschwenkt zu haben. Nicht die Schachtel. Die Zündhölzer, natürlich!
Nein, wir schwenkten Achten! Kreise sind was für Olympioniken. Schweizer Kinder schwenken Achten! (Wenn sie nicht gerade Ovomaltine trinken oder Toblerone essen.)
Kann man verstehen, dass ich nie wieder Lust verspürte, Feuerwerk zu zünden? Obwohl ich Gelegenheit gehabt hätte. Obwohl ich mir heute sogar Schweizer Kracher und Raketen leisten könnte. Falls es die noch gibt. Ich will nicht mehr. Ich hatte damals abgeschlossen. Mich darüber hinweggesetzt. Nie wieder Krieg, hatte ich mir geschworen. Die Schande von Bern hatte mich geprägt. Vater hatte verloren. Nie sind wir darüber hinweggekommen.
Über solche Sachen erfährt man nichts in den Geschichtsbüchern, auf Wikipedia, in Vorträgen. Dabei sind es diese Dinge, die einen prägen fürs Leben.
An diesem Tag wurde ich Pazifist. Als Erstkässler!
Kann jemand ermessen, wie mich das Schlachten am Schweizer Himmel gestern Abend mitgenommen hat?
Es ging schon vor dem Einnachten los und sollte bis Mitternacht andauern. Wir sassen gerade auf dem Sitzplatz und pflegten eine der friedlichsten Schweizer Traditionen: das Fondue-Essen. (Ich verbrachte fünf Sommer im Welschen. Seither bin ich im tiefsten Innern ein Romand. Vor allem am Nationalfeiertag. Deswegen wurde kein Fleisch gegrillt, sondern Käse geschmolzen.)
Beim „Coup du Milieu“ reckten wir unsere Kirschgläser gen Himmel und schrien:
„MACHT AUS SCHWERTERN FONDUEGABELN!“
Aber im Schlachtlärm ging das etwas unter.