Gestern sah ich die Dokumentation über Nils Jent „Unter Wasser atmen – Das zweite Leben des Dr. Nils Jent“.
Mich hat dieser Film unglaublich berührt und er beschäftigt mich.
Es geht um einen Mann, nicht viel älter als ich selber, der mit 19, nach einem Motorradunfall, keine andere Wahrnehmung mehr hat als den Hörsinn.
Heute ist er Lehrbeauftragter an der Universität St.Gallen, Projektleiter, Spezialist für Diversity Management.
Der Film nimmt sich Zeit. Wie Nils Jent, der für einen Volljob 200-Prozent leisten muss. Dabei ist der Film intensiv, nie voyeuristisch und doch sehr nahe bei den Betroffenen.
Mich lässt er darüber nachdenken, wie wir unser Leben wahrnehmen – wie wir wahrnehmen während unseres Lebens.
Eine Aussage im Film ist mir besonders haften geblieben:
Nicht-Behinderte fragt man: Was kannst du? Behinderte fragt man: Was kannst du nicht? Defizitorientierung.
Jent sagt über seinen Doktortitel, er habe gedacht, dass er damit ernster genommen wird, man wohl zum Schluss kommen wird, dass er nicht ganz so dumm sein könnte, wie er aussieht.
Jemandem, der über eine Stunde benötigt, um sich anzuziehen, den man schlecht versteht, wenn er spricht, der mit spastisch verkrümmten Fingern mit alltäglichen Verrichtungen kämpft, traut man ganz einfach weniger zu – sowie Frauen im Allgemeinen, den Blonden im Speziellen, den Kleinen, den Zugewanderten, eigentlich allen, die äusserlich vom Erfolgsmenschen abweichen.
Nils Jent steht für mich als Warnung vor den geistigen Trampelpfaden.
Setze dich in einen Rollstuhl! Allein der Perspektivenwechsel wird dir völlig neue Einsichten geben. Diese Einsichten können für unsere Gesellschaft, für uns persönlich, einen Gewinn darstellen.
So ist der Film ein Statement gegen den Fokus auf den Verlust. Weg vom Defizitdenken, hin zur Überlegung, wie man optimal eingesetzt werden kann.
Ich stelle mir vor, wie mir jemand das Alphabet aufsagt und wartet, bis ich mit den Augen, die nicht sehen können, blinzle. Der erste Buchstabe. Dann von vorne durch das Alphabet. Ein Tag, um ein paar Sätze zu formulieren.
Dann wird mir klar, wie weit der Weg für Nils Jent gewesen sein muss. Nicht jeder würde ihn schaffen, nicht jede würde an den eigenen Möglichkeiten stark werden können. Schritt für Schritt.
Wer den Film verpasst hat: auf der SRF-Seite kann man ihn momentan in voller Länge sehen. Ich vermute, dass dies zeitlich beschränkt ist. Kann also sein, dass der Link nicht lange funktioniert.
Hier geht’s zur Website des Films.
Noch ein Link zum Buch von Röbi Koller.
Poster von Website: http://nilsjentfilm.ch/pages/downloads.php