Das Projekt

Alice Gabathuler – 2008 – Thienemann

ISBN: 978-3-522-17984-3

 

Eben habe ich das zweite Buch von Alice Gabathuler, das Projekt, ausgelesen – nicht ihr zweites Buch, das zweite, das ich gelesen habe (das erste ist Starkstrom). Ich lese ihre Bücher nicht chronologisch, sondern nach Intuition. Lohnt sich!

 

Das Projekt

 

Beim zweiten Buch fängt man an, nach Gemeinsamkeiten zu suchen:

 

Musik!

Calvin Russel diesmal – Crossroads. Einfach genial! Kannte ich ja gar nicht. Allein deswegen ist das Buch eine Inspiration.

 

I’m standing at the crossroads
There are many roads to take
But I stand here so silently
For fear of a mistake
One path leads to paradise
One path leads to pain
One path leads to freedom
But they all look the same.

 

(aus Crossroads, Calvin Russel)

 

Nur schon darüber, ob’s nun „roads“ oder „paths“ sind (je nach Version), könnte man ins Grübeln kommen. [Da fällt mir das (bescheuerte) Beispiel aus dem Religionsunterricht mit der breiten und der schmalen Strasse ein!]

 

Dämme brechen!

Sich aufstauende Kräfte, Wasser- und Geröllmassen, die nur darauf warten, zu Tal zu donnern, Dinge freizulegen, Dinge zu verschütten, Dämme, die brechen – wieder bedient sich Alice des für „Bergler“ naheliegenden Bildes. Vielleicht berührt es mich deswegen, weil ich genau weiss, wovon sie schreibt.

 

Die „lieben“ Eltern!

In meinem Alter kann man Alice‘ Bücher simultan aus zwei Perspektiven lesen: jenem der sich ver- und entpuppenden Jugendlichen und jenem der strauchelnden, zweifelnden, besorgten, hoffenden, behütenden, … Eltern. In diesem Roman gibt es allerdings einen Vater, mit dem sich keiner identifizieren will. Dennoch gibt es sie, Väter, die zu Monstern werden. Mir gefällt besonders, wie Alice die Grenze zieht, um ihn in die Schranken zu weisen.

 

Die „lieben“ Jugendlichen!

Wie gesagt, sie sind dabei, sich zu verpuppen. Jede Menge Camouflage, Panzer, Unfertiges, Verletzliches auch Falsches. Es werden mehr als genügend Identifikationsmöglichkeiten für alle geboten, wobei man sich vermutlich nicht auf eine Figur beschränken wird. In vielen von uns steckt der Rebell, das hässliche Entchen, die Zimmtzicke, der Unterdrückte, der Unterdrücker, der oder die sich selber in die Scheisse reitet, der oder die unglücklich Verliebte, usw. Ich bekomme fast Lust nochmal zurückzuspringen – in den Kokon – um mich zu verwandeln, nochmal die Kontrolle zu verlieren. Andererseits, wie das Buch zeigt, bin ich auch wieder froh, es überstanden zu haben.

 

Freundschaft!

Solange du allein bleibst in deinem Kokon, hast du ein Problem! So etwa lautet für mich die Botschaft. Die Umstände, welche die Jugendlichen zwingen, zusammenzuspannen, sind zwar etwas krass, ein Zumutung eigentlich, stehen für mich aber stellvertretend für alle anderen Zumutungen des Lebens.

 

Die Sprache!

Alice zeichnet ihre Figuren zuweilen holzschnittartig, spricht und schreibt nur das aus, was gesagt werden muss. Der Rest erledigt der Leser, die Leserin selber. Ich kann mir vorstellen, dass die Sprache sehr nahe bei den Jugendlichen ist. Mich jedenfalls trifft sie mitten ins Herz – besonders die bildhaften Vergleiche, denkwürdige Sprüche und Weisheiten, die scheinbar aus dem Nichts kommen, bestimmt aber wohlplatziert sind.

 

Ich finde, „das Projekt“ hilft Jugendlichen, Stereotypen zu erkennen, ihnen zu widersprechen und sich selber und die Welt nicht zu eng oder zu klein zu machen. Ich finde, es hilft ihnen auch, etwas beim Namen zu nennen, für sich und für andere einzustehen, den einen oder anderen Dammbruch zu riskieren oder die Dinge gar nicht erst so lange aufzustauen.

 

Ein weiteres grossartiges Buch aus der Feder einer Frau, die den Draht zu den Leuten, insbesondere den Jugendlichen, „am Scheideweg“ hat.

 

Alice, tiefe Verbeugung!

 

 

 

 

Tom Zai Verfasst von:

Tom Zai ist Autor, Verleger, Lehrer, Moderator, Musiker und noch vieles mehr.