Baby als Hauptpreis

 

Ein Nebenthema meines Romans „Eisenhut“ sind Fernsehshows, die Ausdruck dessen sind, welche Werte eine Gesellschaft vertritt, welche Tabus gebrochen werden dürfen, wo die Grenze des guten Geschmacks liegt.

Meine Theorie: diese Grenzen werden permanent verschoben und zwar in eine ungünstige Richtung. Was noch vor ein paar Jahren undenkbar schien, empfinden wir heute als normal. Was heute als extrem gilt, wird in eine paar Jahren als hinterwäldlerischer Schund abgetan werden.

 

Interessanterweise machen solche Sendungen auch vor vermeintlich konservativ gläubigen Gesellschaften keinen Halt.

Aktuelles Beispiel aus Pakistan: Zwei Ehepaare spielen um die Adoption eines Babys, das im Müll gefunden worden ist. Mehr dazu in Der Welt.

 

 

Ich habe eine zweite Theorie: Obwohl für solche Dinge gerade moderne Formate – also Fernsehen, Internet usw. – genutzt werden, sind sie Ausdruck für eine Rückwärtsbewegung. Es sind moderne Ritterkämpfe, Gladiatorenspiele, Inszenierungen mit dem Ziel, die Leute zu „veridiotisieren“.

 

Dieses Stichwort führt mich zu einem der seichtesten Dystopien, die ich kenne: Idiocracy, eine Komödie um eine völlig verblödete Gesellschaft in der Zukunft.

 

In meinem Buch habe ich eine bitter-schwarze und eine eher satirische Version einer Fernsehshow beschrieben. Beide stehen für dieselbe, unheilvolle Entwicklung. Erstere will ich nicht online stellen. Letztere ist zwar auch nicht hundertprozentig jugendfrei, aber immerhin klar als Persiflage zu erkennen.

 

Der Auszug ist keinesfalls dazu gedacht, den Anlass für diesen Blogbeitrag zu verniedlichen, ganz im Gegenteil. Humor, gerade auch wenn er schwarz ist, kann manchmal helfen, den Finger auf einen Punkt zu legen, der zu sehr schmerzt, wenn man ihn in der ganzen beschämenden Tiefe auslotet.

 

Hier der Auszug aus „Eisenhut“:

 

 

[…] Gegen Mitternacht erwachte er. Paula war anscheinend zu Bett gegangen. Er war allein in der Wohnstube. Der Fernseher lief noch. Eine Show, welche er noch nie gesehen hatte. «Wie verführe ich meinen Chef» hiess sie. Die Spielregeln waren simpel. Zehn Kandidatinnen in zehn verschiedenen Firmen hatten den Auftrag, ihren Chef zu verführen. Das Ganze wurde mit versteckter Kamera gefilmt. Im Studio anwesend waren alle Beteiligten, die Kandidatinnen, die meisten mit Partnern, die Chefs mit Partnerinnen, Arbeitskolleginnen und -kollegen. Zum Teil waren sogar Kinder im Studio. Es fehlte auch nicht der Psychologe, welcher als Experte die Abgründe der menschlichen Beziehungen kommentierte. Werner Schmid fand diese Show eine einzige Katastrophe. Aber er schaffte es nicht, den Fernseher auszuschalten. Für Schweizer Verhältnisse war diese Sendung geradezu ein Quantensprung in Sachen Spannershow. Er hatte sich an Sendungen gewöhnt, in denen Leute zusammen in Containern, auf Inseln, in Bars oder sonst wo eingesperrt wurden. Aber dies hier übertraf alles.

Auf dem Bildschirm waren abwechslungsweise die jungen Frauen bei ihrer «Arbeit» zu sehen. Genauso oft schwenkte allerdings die Kamera ins Publikum, wo sich nervöse Männer die Stirn abtupften, auf der Unterlippe kauten oder möglichst locker in die Kamera lächelten. Die Ehefrauen spielten ebenfalls hervorragend mit. Zwischen den Filmeinspielungen aus den Büros der Chefs wuselte ein schleimiger Moderator zwischen den Zuschauern herum. Er fragte immer wieder scheinheilig:

«Was denken Sie, ist Ihr Mann schwach geworden?»

Oder:

«Haben Sie Vertrauen in Ihren Mann?»

Einmal fragte er einen der Chefs:

«Na, schon gebeichtet?»

Auch die Partner der Kandidatinnen wurden nach ihrem Gefühlsleben gefragt. Die meisten fanden es «cool», und es wäre ja nur fürs Fernsehen, und es gäbe schliesslich tolle Ferien auf Santo Domingo zu gewinnen und so weiter und so fort.

Werner Schmid wusste nicht so recht, was ihn mehr faszinierte: die Naivität der Menschen, welche sich hier vor der Öffentlichkeit entblössten, oder die Machart der Sendung, welche es offenbar erlaubte, mit den Gefühlen der Anwesenden zu spielen wie auf einem Flipperkasten. Am Schluss stand, nach einem ausgiebigen Werbeblock, die Sie­gerin fest. Sie hiess Monique, lag auf dem Schreibtisch, lächelte etwas gezwungen in die versteckte Kamera, während ihr Chef an seinem nächsten Herzinfarkt arbeitete.

Es flossen Tränen auf allen Seiten. Eine Fachjury verteilte noch den «Flirthasen», den Preis für die Kandidatin mit den meisten Reizen. Die standfesten Chefs erhielten Gutscheine für eine thailändische Ganzkörpermassage, die Ehefrauen ein «Kochbuch für erotische Köstlichkeiten».

 

Schulterzuckend schaltete er den Fernseher aus und ging ins Bad. […]

 

 

Tom Zai Verfasst von:

Tom Zai ist Autor, Verleger, Lehrer, Moderator, Musiker und noch vieles mehr.