Eine mathematische Aufgabe zum Grübeln:
Stufe 1
In einem See wachsen Seerosen. Täglich verdoppeln sie ihre Anzahl und damit die beanspruchte Fläche des Sees. Am Tag 30 ist der gesamte See mit Seerosen bedeckt.
Frage: An welchem Tag ist der halbe See mit Seerosen bedeckt?
Eine namenlose, fiktive Schülerin oder ein erfundener Schüler gibt beispielhaft folgende Antwort: «Am Tag 15 ist die Hälfte des Sees bedeckt. Ist doch logisch, oder? Sind wir blöd oder was? Dürfen wir jetzt früher in die Pause? Was für eine bescheuerte Aufgabe! Sich verdoppelnde Seerosen. Können wir bitte Mal was machen, was wir dann auch im Leben draussen brauchen können?»
Wir Menschen denken linear. Exponentielle Funktionen passen nicht zu unserer Lebenserfahrung. Verdoppelungsraten, geschweige denn höhere Potenzen, können wir spontan schlecht abschätzen und einordnen.
Wenn es nicht vermeintlich sinnlose Matheaufgaben, sondern entscheidende, lebenswichtige Prozesse betrifft, hat das Auswirkungen. Sagen wir bei der Zunahme der globalen Klimaerwärmung, von Krankenkassenprämien, Flüchtlingsströmen, der Länge des Bremswegs oder der Corona-Fallzahlen und deren Auswirkung auf das Gesundheitswesen, die Gesellschaft und die Wirtschaft.
Zahlen jonglieren
Spielen wir das kurz mit Zahlen durch: Tag 1 = 1 Seerose.
Frage: Wie viele Seerosen werden es sein, wenn am Tag 30 die ganze Fläche des Sees bedeckt sein wird?
Die Antwort heisst: 536’870’912! Hätten Sie eine tiefere Zahl erwartet?
Hier die ganze Zahlenreihe und die Grafik dazu:
Nun könnte man einwenden, dass es durchaus reicht, am Tag 29, wenn tatsächlich die Hälfte des Sees bedeckt ist, die richtigen Massnahmen zu treffen. Also z.B. Gift in den See kippen, Seerosen mit Flammenwerfer verbrennen, Taucher zum Jäten schicken oder so.
Stufe 2
Verschärfen wir die Problemstellung.
Stellen Sie sich vor, Sie könnten die drei letzten Verdoppelungszyklen der Seerosen nicht mehr beeinflussen, weil alle Massnahmen, die Sie ergreifen könnten, mindestens drei Tage Vorbereitung in Anspruch nähmen. Sie müssten zum Beispiel herausfinden, wie Sie die Seerosen stoppen können, ohne alles Leben im Teich zu töten. Kollateralschaden. Vielleicht müssten Sie auch zuerst herausfinden, was Seerosen sind und warum die sich so verdammt schnell vermehren. Dafür suchen Sie Expert*innen in Sachen Seerosen im Speziellen und Pflanzen im Allgemeinen.
Frage: Bei welchem Anteil der Seerosen an der Fläche des Sees müssten Sie spätestens reagieren, damit der See nicht zuwächst?
Antwort: Bei einem Sechzehntel der Fläche. Das sind 6.25%. Dann erreichen Sie die Hälfte, ohne diese verhindern zu können.
Mist!
Stufe 3
Warum, zum Henker, soll ein Teich voller Seerosen ein Problem sein? Und, gibt es Seerosen überhaupt? Falls ja, lässt sich beweisen, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Wachstum der Seerosen, der Zufriedenheit von Stand-Up-Paddler*innen, der Biodiversität unter und über der Wasseroberfläche sowie der Migration von Kormoranen gibt? Hat es nicht immer schon Seerosen gegeben und sind Seerosen nicht einfach so was wie Wiesenblumen, die es gerne feucht haben? Was ist mit der persönlichen Freiheit von Freizeitmaler*innen, die auf den Spuren Monets wandeln? Was sagt die Wirtschaft dazu? Vielleicht müsste es einfach mehr Grillitarier am See haben. Wir werden im Winter auf dem zugefrorenen See schon wieder Hockey spielen können, oder?
Frage: Wird der See zuwachsen oder nicht?
Antwort: So fehlt am Ende die Zeit und …
Stufe 4
… dann mutieren die Seerosen und verlassen den See. Sie überwuchern einfach alles und jedes. Jeden Tag um die doppelte Fläche. Und die Seerosen blühen rosa und alles ist pink, und nun, da sich alle einig sind, dass etwas getan werden muss, gibt es die Mittel nicht, solch riesige Flächen und solch gigantische Massen an Seerosen zu behandeln. Und, wenn man sie abtötet, dann gibt es Berge von verrottenden Seerosen, die dermassen vor sich hinstinken, dass ein gestrandeter, toter, aufgeplatzter Wal ein lauer Furz dagegen ist. Wenn alle, aber wirklich gar alle, sämtliche Mittel in die Schlacht werfen, kann wenigstens die neuerliche, tägliche Verbreitung gestoppt werden. Doch, um die Seerosen zurück in den See zu drängen, fehlt die Kraft.
Frage: Wie viele Expert*innen in Sachen Seerosen gibt es zu diesem Zeitpunkt, wenn sich deren Anzahl von 0 mittlerweile 100 mal verdoppelt hat?
Antwort: Was ist los, Mann!
Stufe 5
Nun fängt es den Menschen an zu dämmern, dass sie vor lauter Seerosen den Blick auf weitere Dinge verloren haben. Das Leben ist plötzlich viel zu warm geworden, zu dicht bevölkert auch, zu teuer insgesamt, zu trocken oder zu feucht und ganz und gar zu gefährlich und – verdammt noch eins! – viel zu pink.
Und dann setzen sich alle hin und legen die Hände in den Schoss und jemand erzählt eine Geschichte, die nun wirklich niemand hören will: Die Geschichte von der Ameise, die den Grillen im Sommer vergeblich zu erklären versucht, dass Geigenspiel in den meisten Fällen absolut nervtötend ist. Dabei fällt einer Anderen die Geschichte von Frederick ein, der faulen Maus, die doch am Ende im Winter, als das Futter langsam knapp und das Leben einfach öde geworden ist, allen das Herz erwärmt, weil sie sich am besten an die heile Welt des Sommers erinnern kann.
An einen Sommer mit viel freiem Platz auf den und um die Seen und wenigen Seerosen, die kaum auffallen.
Frage: Wann genau hätte man den verdammten Seerosen den Garaus machen sollen?
Zusatzfrage: Noch Fragen?
[Bildquelle Beitragsbild Seerose: Wikipedia © Derschueler / CC-BY-SA-3.0, CC BY-SA 3.0]