Abstimmungssonntag

21. Mai 2017. Noch 30 Tage bis zur Tag- und Nachtgleiche. Dann geht es wieder bergab. Bergab geht es sowieso meistens und dann aber gründlich. Wie heute am Abstimmungssonntag.

Abstimmungssonntag wieder einmal

Ich habe mir fest vorgenommen, zur Urne zu gehen. Also stürze ich mich in massentaugliche Klamotten und fahre mit meinem (noch) benzinbetriebenen Auto zum Rathaus, um über die Energiestrategie abzustimmen.

Ich fahre vorbei an der „Chüngeli-Ausstellung“, eigentlich „Kleintierausstellung“, der Orintholog_innen (Vogelkundler_innen! Als ob Kaninchen Vögel wären!) und mache mir sinnlose Gedanken über den Unterschied zwischen Kleintieren und kleinen Tieren, bzw. deren Gegenteil.

Beim Sportplatz

Eine Mutter oder ein Vater oder eine weitere, zum Transport von Kleinmenschen autorisierte, Person bremst mich hart aus. Hier ist die Drop-in-Drop-out-Zone des Fussballturniers.

Darf man Familienvans, die ohne zu blinken mitten auf der Strasse stehen bleiben, um Jungsportler_innen am Zielort abzusetzen, links überholen? Na ja, rechts sicher nicht. Ausserdem erstelle ich Bremsbereitsschaft und bleibe im Gesichtsausdruck neutral und gelassen, wie mir das als zum Abstimmungsbüro fahrender Bürger ansteht. Viele Leute mit Vereinsjacke beobachten mich. Niemand schüttelt den Kopf. Also ist das Manöver okay.

Beim Rathaus finde ich tatsächlich einen Parkplatz, in den ich sauber, politisch unmotiviert, links-rückwärts-seitlich einparkiere.

Klammer auf

Hier muss ich einen kleinen Einschub für meine Freundinnen und Freunde in Deutschland machen: parkieren an sich, und das auch noch entgegen der Fahrtrichtung, ist eine zutiefst helvetische Angelegenheit. – Klammer geschlossen.

Abstimmungsbüro

Geschlossen gilt auch für die Türen zum Rathaus. Sie öffnen sich nicht, obwohl die Tafel „Heute Abstimmungssonntag“ noch draussen steht. Ein Blick auf den Stimmausweis zeigt: Die schliessen neuerdings bereits um zehn Uhr. Seit Jahren gehe ich an Abstimmungssonntagen Punkt 11.18 Uhr aus dem Haus, damit ich um 11.27 als Letzter meine alles entscheidende Stimme einwerfen kann und nun das: Ausgesperrt, um die Stimme geprellt, verschwörungstheoretisch um meine Bürger_innenrechte beraubt!

Auf Umwegen fahre ich nach Hause und entnehme dort die sonntägliche Zeitung dem Briefkasten.

„Schwierige Schüler überfordern die Lehrer“

schlägt es mir die Schlagzeile ins Gesicht, dass es klatsch. Meines Wissens sind ca. 80% aller Lehrkräfte weiblich, also Lehrerinnen. Und denselbigen hat man oder frau ein Studium lang eingeimpft, nicht von den SchülerN sondern konsequent und immer von den SuS zu schreiben.

(Wobei unklar ist, ob das erste oder das zweite S weiblich, bzw. männlich sein soll. Insofern ist offen, wie man oder frau SuS zu lesen hat. Schülerinnen und Schüler oder Schüler und Schülerinnen. Abwechseln wäre wohl die Lösung. Oder das SuS wird demnächst dudenkonform.)

Wieso steht da also nicht:

Schwierige SuS überfordern die Lehrerinnen

Antwort: weil sich dann die LehreR nicht betroffen fühlen müssen_können_dürfen_sollen, umgekehrt aber die LehrerINNEN aus Prinzip immer persönlich betroffen sind. (Ups!)

Also stelle ich mir der Zeitung zuliebe halt Jason oder Justin vor, wie er einen Lehrer durch massiven Einsatz von Verhaltenskreativität an den Rand der Verzweiflung und eines allumfassenden Burnouts bringt. Damit kann ich umgehen, selbst wenn es gegen mathematische Grundlagen verstösst.

Die Fantasie von Joseline oder Samantha, welche das humanistisch-christliche Weltbild einer Lehrerin durch egomanische Boshaftigkeit in ihren Grundfesten so erschüttert, dass die Pädagogin heimlich darüber nachdenkt, noch ein Jahr früher auf Weltreise zu gehen, schiebe ich erschrocken beiseite. Wer soll denn noch Schule geben, wenn am Ende auch die Lehrerinnen überfordert sind. Ich lese weiter, einen Artikel über:

künstliche Gebärmütter

Und das so kurz nach dem Muttertag! Mein herbeigesehnter Postkarten-Abstimmungssonntag bricht gänzlich unter mir weg, als ob Michael Ende persönlich „das Nichts“ herbeigeschrieben hätte. Lämmer werden in Beuteln wie aus einem Science-Fiction Film gebrütet? Und bald soll das auch bei Menschen möglich sein? Schauderhaft. (Das letzte Wort bitte mit einem Ossi-Akzent lesen. Dann entfaltet es erste seine ganze Wirkung.)

Wer möchte schon dannzumal im Altersheim Vater oder Mutter oder beides werden und in der hauseigenen Brutstation dem Embryo, dem Fetus beim Wachsen zusehen, das Kind nach der Entbeutelung in die interne KiTa geben, um es bald darauf einem vollkommen überforderten Lehrer anzuvertrauen (falls man oder frau dann überhaupt noch einen Vertreter der Gattung des homo paedagogus fix et finitus mit einem Bachelor in Arts of Science in Education in early and intermediate Childhood Studies finden wird)? Ich nicht. Aber ich will ohnehin nicht ins Altersheim.

Um mein inneres Gleichgewicht wiederherzustellen, greife ich zu drastischen Mitteln. Ich schreibe eine E-Mail ans Rathaus:

zum Abstimmungssontag

Sehr geehrte Herren
und Damen!

Ich wollte gar nicht abstimmen gehen. Damit Sie es nur wissen!
Behalten Sie doch Ihre Stimmzettel selber!

Schönen Abstimmungssonntag noch!
Tom Zai Verfasst von:

Tom Zai ist Autor, Verleger, Lehrer, Moderator, Musiker und noch vieles mehr.